Ein Bauernhof im Emmental der 50er-Jahre: Wie besessen schrubbt das junge Berteli (Miriam Strübel) die Wäsche im Zuber. Das Mädchen wringt die Bettlaken so heftig aus, als wolle sie jemanden erwürgen. Ihr Leidensgenosse Max (Nico Delpy) stösst dazu und erzählt ihr von seinen Träumen, von seinen Fluchtfantasien zusammen mit Berteli Richtung Argentinien. Sie würdigt ihn keines Blickes. Erst als er verstummt, schreit sie: «Hör doch endlich auf mit deinen Kindermärchen!», und schlägt ihm die nassen Laken um die Ohren.
Leise lässt Nermin Tulic auf der Bühne eine Akkordeon-Melodie erklingen. Berteli, die als 15-Jährige ihrer alleinerziehenden Mutter weggenommen wurde, ist an ihrem Tiefpunkt angelangt: In der Nacht davor ist sie von Jakob (Jonathan Loosli), dem Sohn der Bauernfamilie, in ihrem Bett vergewaltigt wor-den. Sie fühlt sich ausgeliefert, schmutzig, ohne Hoffnung. Auch Max, der selbst als Verdingbub auf dem Hof schuften muss, kann ihr nicht helfen.
Bis Anfang der 80er-Jahre wurden jährlich Zehntausende Waisen- und Scheidungskinder in der Schweiz und anderen Alpenländern verdingt. Die Behörden teilten sie Bauernfamilien zwangsweise zu, wo die Kinder hart arbeiten mussten, oft körperliche und psychische Misshandlungen erlitten. Regisseur Markus Imboden hat dieses dunkle Kapitel Schweizer Geschichte in seinem eindringlichen Film «Der Verdingbub» von 2011 aufgegriffen. Anhand der Schicksale von Max und Berteli auf dem Hof der verarmten Bauern Bösiger zeigt er, wie sich die Gewaltspirale innerhalb der Familie dreht – und wie der Pfarrer und die Behörden wegschauen. Andreas Matti, der im Film die Pfarrer-Rolle innehatte, wechselt im Theater als Bauer Bösiger auf die andere Seite. Plinio Bachmann, Drehbuchautor des Films, hat sich nun zusammen mit Barbara Sommer der Bühnenfassung angenommen.
«Gewalt auf engstem Raum»
«Der Film eignet sich mit seiner Kammerspiel-Konstellation hervorragend für das Theater», sagt Regisseurin Sabine Boss. In ihrer Inszenierung legt sie den Schwerpunkt auf die innerfamiliären Konflikte: «Die Frau, die ihren Alkoholiker-Mann nicht liebt, die schwierige Vater-Sohn-Beziehung, verpasste Zärtlichkeit.» Sie will darstellen, wie Frustration, emotionale Vernachlässigung und der Druck, der auf der verarmten Familie lastet, ganz nach unten in der Hierarchie an die Verdingkinder übertragen werden. «Armut und Gewalt, die man selbst erlebt hat, gibt man weiter. Die Bösigers schaffen es nicht, ihrem Milieu zu entkommen.»
Um diese beengende Situation darzustellen, hat Hugo Gretler ein bewegliches Bühnenbild geschaffen. Je nach Drehung sind Küche, Stall oder Bertelis Zimmer zu sehen. Während die Holzlatten auf der einen Seite wie Gitterstäbe wirken, ist die winzige Küche Abbild der bedrückenden Verhältnisse. «Hier spielt sich Gewalt auf engstem Raum ab», sagt Sabine Boss.
Schmutz und Armut in Bilder fassen
Die Regisseurin wurde für Filme wie «Der Goalie bin ig» ausgezeichnet und leitet an der Zürcher Hochschule der Künste den Studiengang Film. Mit dem Stück «Verdingbub» kehrt sie wieder zum Theater zurück. «Es ist für mich mehr Heimkommen, als Neuland», sagt Sabine Boss. An der Theaterarbeit schätze sie die Zeit, die sie mit ihrem Team hat, um einzelne Szenen auszuloten, während bei einem Filmdreh alles viel schneller im Kasten sein muss. Für ihre Inszenierung nimmt sie sich nicht den Film «Der Verdingbub» als Vorbild, sondern geht von Text und Inhalt aus. «Man muss sich von der Vorlage lösen und abstrahierte Bilder finden», ist sie überzeugt. Zur Vorbereitung hat sich das ganze Ensemble intensiv mit der Geschichte von Verdingkindern beschäftigt. Wie viel davon lässt sich im Theater umsetzen? «Wir haben grösste Demut vor den Leuten, die das wirklich erlebt haben», sagt sie. «In der Kunst kann man nur eine Übersetzung finden für das Thema.»
In ihrer Inszenierung wird Boss teilweise mit Videos arbeiten: «Sie werden nicht dokumentarisch eingesetzt, sondern assoziativ.» Sie sollen die Seelenzustände der Figuren verstärken oder Themen wie Schmutz und Armut in Bilder fassen. Einen wichtigen Part übernimmt der bosnische Musiker Nermin Tulic. Er wird mit seinem Akkordeon für poetische Momente auf der Bühne sorgen. Zum Ende der Proben erklingt das Lied «S isch mer alles eis Ding», zu dem Berteli herzhaft mitsingt – ein Moment, in dem sie all ihre Sorgen loslassen und einfach Kind sein kann.
Verdingbub
Premiere: Fr, 13.10., 19.30 Stadttheater Bern
Wiedergutmachungsinitiative
Seit dem 1. April dieses Jahres ist das «Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981» in Kraft. Ehemalige Verdingkinder und andere Opfer können einen sogenannten Solidaritätsbeitrag von maximal 25 000 Franken beantragen. Bisher sind mit rund 3300 Gesuchen eher eine geringe Anzahl eingegangen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Oftmals sind die Erlebnisse mit Scham verbunden. Gesuche können bis spätestens 31. März 2018 eingereicht werden: www.fszm.ch
Ein Verdingbub macht seinen Weg
Ein neues Buch im Limmat Verlag erzählt das Schicksal eines ehemaligen Verdingbuben: Paul Richener hat seine ersten Jahre in Kleinbasel mehrheitlich auf der Strasse verbracht. Als sei-ne Mutter die Familie verliess, wurde der 6-Jährige in eine Pflegefamilie in ein Baselbieter Dorf gebracht. «Der stinkt», hiess es dort. Fortan erfuhr der kleine Päuli Demütigungen und musste sich als Kinderknecht durchschlagen. Noch heute kann er den Geruch des Rheins kaum ertragen. Er erinnert ihn an «Kinderelend, Verlassenheit und Hoffnungslosigkeit, an Zwangsmassnahmen und Beamtenwillkür». Dennoch hat er seinen Weg gemacht: Heute ist er Gemeindepräsident in ebenjenem Dorf, in dem er als Bub verdingt wurde.
Buch
Dorothee Degen-Zimmermann
«Aus dir wird nie etwas! Paul Richener – vom Verdingbub zum Gemeinde-präsidenten»
176 S., 34 Abb. (Limmat Verlag 2017).