Das Internet kennt unsere Wünsche und Vorlieben besser als wir selbst. Datenarchive wissen mehr über uns, als wir je wussten. Unser tägliches Leben ist abhängig von der Technologie weniger Konzerne. Doch was wäre, wenn unsere Datenspuren autonome Wesen würden? Könnte man Empfindungen und sogar ganze Körper teilen?
Workshops mit Internetaktivisten
Was sich nach Science-Fiction anhört, ist von unserer Realität weniger weit weg, als wir glauben, meint der Schweizer Regisseur Tim Zulauf. Mit seinem Projekt «Trollhaus» kommt er ans Theaterspektakel. Grundlage dafür waren zwei Workshops, die Zulauf 2015 in Tunis mit Internetaktivisten aus der Schweiz, Österreich, Deutschland und Tunesien organisierte.
Es ging um die Rolle des Internets während der tunesischen Revolution 2010/11 und heute. Damals galt Facebook als der treibende Motor, ohne den der Sturz des Präsidenten Ben Ali nicht denkbar gewesen wäre. Zulauf interessiert, wie sich die Einstellung gegenüber dem Internet seither verändert hat: «Die Jungen in Tunesien sind enttäuscht von der Revolution: Viele Funktionäre aus Ben Alis Zeiten sitzen noch in den alten Positionen, man ist skeptisch gegenüber den Institutionen und gegenüber dem politischen Potenzial von neuen Medien.» In Zeiten von «Fake News» und «Filter Bubbles» zweifeln auch in Europa viele an der Glaubwürdigkeit des Internets. Und auch die Schweiz ist nicht ganz frei von Internetzensur – die Algorithmen, die entscheiden, ob Webseiten kriminell sind und gesperrt werden, sind nicht transparent.
Der 44-jährige Regisseur ist kein «Digital Native», also noch nicht mit dem Internet aufgewachsen. Doch in den letzten Jahren stellte er an sich eine Abhängigkeit von E-Mail, Smartphone, iTunes und Co. fest und begann, sich Gedanken zu machen: «Ich fühlte mich eingeengt: Die Applikationen sehen ständig schicker aus, es gibt mehr Speichervolumen und feinere Auflösungen. Aber wir können die Technologien kaum mehr frei nutzen, alles wird vom Anbieter vorgegeben. Wir konsumieren, statt produzieren zu können.» Auf diese Weise geraten ganze Länder in Abhängigkeiten, Regierungen sind auf bestimmte Tools angewiesen, um sich vernetzen zu können. Aktivisten und Programmierer wollen das ändern und unabhängige Netzwerke entwickeln, die auf neuen Kriterien beruhen: etwa auf gemeinschaftlichem Teilen oder freiem Zugang zu Wissen.
Opfer eines Hacker-Angriffs
In der Installation «Trollhaus» spielen vier Schauspielerinnen und Schauspieler Ausschnitte der Workshops nach. Zu sehen sind Najoua Zouhaïr und Riad Hamdi aus Tunesien sowie Christoph Rath und Vivien Bullert aus Österreich und Deutschland. Auf und um Holzkreise installiert, findet ein Kongress zur Selbstermächtigung im digitalen Raum statt. Eine Teilnehmerin ist Opfer eines Hacker-Angriffs geworden. Ihr gesamter digitalisierter Haushalt wurde auf den Kopf gestellt und sie selbst in der Wohnung eingesperrt.
Die anderen kritisieren die Kontrolle des Internets durch grosse Konzerne. Zunehmend kommt Unsicherheit auf: Können sich die vier aus unterschiedlichen Kulturen aufeinander verlassen? Welchen Einfluss haben die Mittelmänner, die sich in die Übersetzung der verschiedenen Sprachen einmischen? Was sie nicht bedenken: Während sie diskutieren, hinterlassen sie selbst lange Datenschatten im Internet.
Der Mensch wird zum Netzwerkwesen
Herzfrequenz und Blutdruck werden laufend gemessen, alle Suchbewegungen im Internet aufgezeichnet, jede Aussage archiviert. Und plötzlich lösen sich die vier auf – sie werden ersetzt durch ihre Datenspuren und vereinen sich als grosses Archiv zu einer einzigen Entität, einem Netzwerkwesen. Die vorher klar getrennten Lichtkegel auf der Bühne werden zu einer verpixelten Lichtmatrix. Das Wesen muss sich selbst verstehen, um sich wieder in die vier Identitäten aufteilen zu können: «Wer hat mich aufgezeichnet? Nach welchen Grundlagen und von wem wurde ich programmiert?», fragt es sich.
Während 70 Minuten findet eine dreimalige Metamorphose der vier Figuren zum einheitlichen Wesen und umgekehrt statt. Die Zuschauer bewegen sich währenddessen frei im Raum. Man kann jederzeit reinkommen und dem «Kongress» so lange beiwohnen, wie man möchte. Auf eigene Gefahr. Denn wer bleibt, kommt nicht darum herum, seinen Umgang mit den digitalen Medien zu hinterfragen.
Trollhaus
Regie: Tim Zulauf
Sa, 19.8.–Mi, 23.8., jeweils 18.30 bis 22.00 (Eintritt jederzeit)
Saal Landiwiese Zürich
Die Höhepunkte auf der Landiwiese
Das Zürcher Theaterspektakel stellt in diesem Jahr die Vergangenheit in den Mittelpunkt – aus
gegenwärtiger Perspektive. Wie immer sind Künstlergruppen aus unterschiedlichen Ländern zu Gast in den Spielstätten rund um die Landiwiese. Der kulturtipp hat vier sehenswerte Stücke herausgepickt.
Auf die Perspektive kommt es an
Der ägyptische Theaterregisseur Wael Shawky bringt das altfranzösische Epos vom «Rolandslied» aus dem 11. Jahrhundert ans Theaterspektakel. Darin geht es um die Kriegszüge Karl des Grossen gegen die islamischen Sarazenen in Spanien. Shawky inszeniert das Stück aus arabischer Sicht und fragt damit nach der Deutungshoheit über die Geschichte. Die Bühne wird zu alten Stadtplänen von Aleppo, Bagdad und Istanbul. Arabische Fidjeri-Gesänge, orange-rote Farben und wüstenartige Kostüme holen ein Stück Orient nach Zürich.
The Song of Roland: The Arabic Version
Regie: Wael Shawky
Di/Mi, 22.8./23.8., jeweils 19.00
Theaterspektakel: Werft
Traurigkeit als Kalkül der Macht
Acht Bewohner und vier Häuser gibt es noch auf der dänischen Insel «Tristesse», als die Kandidatin der «Partei des völkischen Erwachens» sie für ihre Zwecke gegeneinander aufhetzt. Die belgische Regisseurin Anne-Cécile Vandalem und ihre Kompanie «Das Fräulein» thematisieren mit «Tristesses» den beunruhigenden Aufstieg populistischer Parteien in Europa und die Traurigkeit, die ihnen zur Macht verhilft. Ein spannendes Theatererlebnis zwischen Politthriller und Gruselstück, das unter die Haut geht.
Tristesses
Regie: Anne-Cécile Vandalem
Do, 17.8.–Sa, 19.8., jeweils 19.00
Theaterspektakel: Werft
Das Körperliche ist politisch
Der Tänzer und Choreograf Mithkal Alzghair reflektiert in seiner Tanzchoreografie eigene Erfahrungen der Flucht aus Syrien und die Gefühle im französischen Exil: Das Stück mit drei Tänzern stellt die Reaktion des Körpers auf Eingeengtsein, Angst und Demütigung in den Mittelpunkt. Alzghair geht der Frage nach, wie Politik und Krieg den traditionellen Tanz beeinflussen. Ein Bühnenerlebnis, das am eigenen Körper spürbar wird.
Displacement
Regie: Mithkal Alzghair
Sa, 19.8.–Mo, 21.8., unterschiedliche Zeiten
Theaterspektakel: Rote Fabrik (Aktionshalle)
Mit den Händen sprechen
Acht Hände erzählen die Geschichte ihrer gehörlosen Besitzer im Stück «Jeden gest». Der polnische Regisseur Wojtek Ziemilski ist fasziniert von den galanten Bewegungen der Gebärdensprache und setzt sie wie einen Tanz ein. Die Geschichten der vier Darsteller sind lustig und traurig zugleich. Gemeinsam ist allen eine schwierige Kindheit in der Welt der Hörenden. Eine berührende Reise in eine ganz und gar nicht stumme Sprachwelt.
Jeden gest
Regie: Wojtek Ziemilski
Mo, 21.8.–Mi, 23.8., jeweils 19.00
Theaterspektakel: Süd
Zürcher Theaterspektakel: Do, 17.8.–So, 3.9. Programm: www.theaterspektakel.ch