Bühne - Eine Utopie über den Berggipfeln
Eine visionäre Gemeinschaft versammelt sich in der Wander-Theater-Performance «Mountain Glory» auf der Alp Stierva. Ein Augenschein auf 2200 Metern über Meer.
Inhalt
Kulturtipp 15/2012
Babina Cathomen
Im Bündner Albulatal geht eine Legende um: Auf der Alp Stierva soll sich einst eine Gruppe von Intellektuellen zusammengefunden haben, um ihre Kinder nach Rousseaus Lehre in der Natur zu erziehen. Ein Stoff für die Theatermacher Markus Gerber, Simon Helbling und Mathias Balzer. In «Mountain Glory» verwischen sie die Grenzen zwischen Realität und Fiktion und berichten von einem Alpeninstitut, das hier bis Anfang 20. Jahrhundert existiert haben soll.
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Im Bündner Albulatal geht eine Legende um: Auf der Alp Stierva soll sich einst eine Gruppe von Intellektuellen zusammengefunden haben, um ihre Kinder nach Rousseaus Lehre in der Natur zu erziehen. Ein Stoff für die Theatermacher Markus Gerber, Simon Helbling und Mathias Balzer. In «Mountain Glory» verwischen sie die Grenzen zwischen Realität und Fiktion und berichten von einem Alpeninstitut, das hier bis Anfang 20. Jahrhundert existiert haben soll.
Mit fünf Performern aus der Schweiz, Island, Holland und England haben sie in den letzten Monaten die Landschaft auf der Mutterkuh-Alp Stierva erkundet und sich in die Rousseau-Texte eingelesen. Im Zentrum steht der Roman «Emile oder über die Erziehung» (siehe Box): Auf mehreren Stationen will Regisseur Gerber den Zuschauern die Entwicklung des Protagonisten Emile nahebringen.
Rousseau erleben
Start ist am Bahnhof Tiefencastel, wo das Publikum bereits im Bus auf die Alp Stierva über Kopfhörer in die Lehren des Instituts eingeweiht wird. Auf einer kleinen Alp-Wanderung erleben die Zuschauer danach hautnah die rousseausche Erziehung – vom Kleinkind bis zum Jüngling. «Im Stück geht es um ein Urthema: Das Zusammenleben des Menschen mit der Natur. Rousseau hat dazu mit seiner Idee der natürlichen Erziehung einen Radikalvorschlag gemacht», erläutert Gerber. In seiner Performance mit Musik des Bündners Peter Conradin Zumthor und des Polen Marek Otwinowski will er den Bogen thematisch in die heutige Zeit schlagen. Kleine Irritationen in der Landschaft – etwa eine einzelne Tür auf einem Hügel – deuten auf die Spielorte hin. Sie reichen vom Steinbruch bis zum «Mensch-Kreations-Tempel», den die Truppe aus Hölzern, Rädern und Seilen zusammengebaut hat.
Vom Wetter abhängig
Während der Probe-Monate haben sich die Künstler der rauen Landschaft angepasst: Mit langem Haar und Bärten bilden sie eine wilde Männer-Truppe. «Dennoch gibt es keine persönlichen Konflikte, höchstens rege Diskussionen über das Stück», meint der Isländer Sigurdur Arent Jonsson, der sich abends jeweils in seine eigene Hütte zurückzieht. Er schwärmt vom Leben auf der Alp: «Wir experimentieren hier mit dem, was die Natur uns bietet, und entdecken jeden Tag neue Möglichkeiten.» Einzig den 63-jährigen Max Rüdlinger zieht es zwischendurch nach Zürich: «Die Natur ist für mich immer eine Art Kunstausstellung», meint er ironisch. In seinem Alter habe er immerhin das Privileg, beim Älpler unterzukommen, während andere im rausgeputzten Schweinestall schlafen. Für Rousseau kann sich der Vielleser aber begeistern: «Ich war überrascht, wie dynamisch und aktuell seine Schriften sind.»
Vieles hängt vom Wetter ab, wie der Besuch auf der Alp zeigt, wo inzwischen dunkle Wolken aufgezogen sind. Die Kleider auf der Wäscheleine flattern wild im Wind, ein aufgescheuchtes Huhn rennt gackernd in die Küche. Unvermittelt prasselt ein Regenschauer nieder, und die Schauspieler bringen ihre Siebensachen in Sicherheit. Von den schnellen Wetterwechseln lassen sie sich aber nicht stören. «Wie zu Hause», meint Isländer Jonsson. Tropfnass, aber zufrieden trottet der Holländer Oscar Siegelaar zehn Minuten später mit einem Pferd, mit dem er geprobt hat, unter das Vordach.
Kurze Zeit später erinnert nur noch Donnergrollen an den Regen. Der Regisseur nutzt die Trockenphase für eine Probe vor spektakulärer Bergkulisse. Es ist die absurde Szene, in der Emile erstmals mit seiner für ihn vorbestimmten Sophie zusammentrifft. Max Rüdlinger als Erzieher Rousseau gibt den Ton an: «Emile ist jetzt bereit für das andere Geschlecht», verkündet er. Emile, wunderbar naiv gespielt von Jonsson, steht daneben stramm und nickt beflissen. Die Begegnung läuft steif ab: Der bärtige Basler Lukas Kubik mimt mit schüchternem Augenaufschlag Sophie; der immer noch triefende Holländer Siegelaar die beschürzte Mutter. Eine Volkstheater-Szene par excellence, zum Kugeln komisch. Es ist eine von vielen theatralen Formen, welche Gerber in sein Projekt einbezieht.
Auch ohne Alpkulisse
Ohne Alpkulisse wird die Performance auch andernorts zu sehen sein. Geplant sind Aufführungen in einer angepassten Form im Theater Chur und in der Gessnerallee Zürich, wo die Städter vom «reinen Leben in der Natur» überzeugt werden sollen.
Erziehungslehre nach Rousseau
«Emile oder über die Erziehung» von 1762 ist ein Hauptwerk von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). Der umstrittene Genfer Schriftsteller und Philosoph setzt sich im Erziehungsroman mit der Reifung eines Kindes zum mündigen Staatsbürger auseinander. Von der Geburt bis zum Jünglingsalter begleitet er seinen Zögling Emile. Er stellt darin die These auf, dass der Mensch von Grund auf gut ist und bleibt, wenn man ihn fern der Zivilisation in der Natur nach seiner «inneren Freiheit» erzieht.
Im letzten Kapitel widmet er sich der Erziehung des Mädchens Sophie, die auf denselben Grundlagen beruht. Allerdings lernt sie «frauenspezifische Tätigkeiten» wie Nähen oder Klavierspielen. Rousseau betrachtet es als Erzieher als seine Aufgabe, die beiden bis zur Heirat zusammenzuführen. Sein Werk wurde in mehreren europäischen Ländern verboten. Aus Genf wurde er verbannt und musste flüchten. Seine fünf eigenen Kinder liess der Pädagoge Rousseau im Waisenhaus aufziehen.