Sie sind zwei argentinische Energiebündel, gewaschen mit allen Wassern der Theaterkunst. Emilio García Wehbi, geboren 1964, mischt seit 1989 die freie Theaterszene auf: als Regisseur, Performer, Künstler, Autor und Ausbildner. Damals hatte er die Theatergruppe «El Periférico de Objetos» gegründet. Seit 15 Jahren arbeitet er mit Maricel Àlvarez, geboren 1973, zusammen. Sie ist Schauspielerin, Choreografin, Lehrerin, Regisseurin.
Beide stammen aus Buenos Aires, wo sie auch ihr gemeinsames Wirkungszentrum haben. Und wenn sie nicht dort sind, wirbeln sie mit ihren freien Produktionen in der ganzen Welt herum: von Mexiko bis Japan, von Brasilien bis Deutschland, von den USA bis Frankreich und von Festival zu Festival. Jetzt arbeiten sie in Bern. Entdeckt hat sie Iris Laufenberg, die Noch-Schauspieldirektorin bei Konzert Theater Bern. Sie hat die Südamerikaner am Theatertreffen in Berlin kennengelernt und sie für eine Produktion in die Bundesstadt eingeladen.
Multinationale Truppe
Da kommen nun auf Berns Vidmar-Bühne gleich einige Ingredienzen zusammen, die einen prickelnd-explosiven Cocktail erwarten lassen. Wehbi und Àlvarez arbeiten erstmals in den Strukturen eines Stadttheaters. Sie mischen Sprech-, Musik- und Tanztheater und haben ein multinationales Ensemble zur Verfügung. Was die Vorlage «Bernarda Albas Haus» von Federico García Lorca (1898–1936) betrifft, erläutert Maricel Àlvarez: «Als uns Iris Laufenberg vorschlug, dieses Stück zu inszenieren, mussten wir erst mal nachdenken. Wir kamen zum Schluss, dass uns die Vorlage thematisch zwar sehr interessiert, formal aber nicht.» Wohl gerade deshalb erhielten die beiden freie Hand, eine Überschreibung der Lorca-Tragödie zu erarbeiten – sie nennen es «reescritura» oder «apropiación», eine Neu-Aneignung.
García Lorcas Stück führt vor, wie die Witwe Bernarda nach dem Tod ihres Mannes ihren fünf Töchtern eine achtjährige Trauer verordnet und so ihr Haus für alle zu einem Gefängnis werden lässt. Für Emilio García Wehbi sind darin Themen enthalten, die virulent bis in unsere Gegenwart hineinwirken. Die Einengung der Menschen durch gesellschaftliche Normen und Religion etwa. Auch das Fehlen von Gerechtigkeit, vor allem aber die allgegenwärtige Phallokratie: «Bernarda ist nach dem Tod ihres Mannes gezwungen, in dessen Rolle zu schlüpfen und männliches Verhalten zu übernehmen. Nur so kann sie vor der Dorfgemeinschaft bestehen», argumentiert der Regisseur.
Grenzen sprengen
Diesen Kerngedanken will er erweitern mit unterschiedlichen dokumentarischen Materialien sowie Texten von Gegenwartsautoren aus verschiedenen Literaturen, die seit den 1980er-Jahren geschrieben worden sind. Deren Motive sollen den Inhalt des neuen Stückes gleichzeitig umkreisen und zur Jetztzeit hin öffnen. Denn dem argentinischen Regie-Paar geht es auch darum, mit seinem postdramatischen Theater allzu einengend-konventionelle Grenzen inhaltlich wie formal zu sprengen. Und Maricel Àlvarez ergänzt: «All diese Texte, wie auch etwa das antike Theater, der Poststrukturalismus oder Antonin Artauds Theater der Grausamkeit, hinterlassen Spuren im Stück.»
Worauf Emilio García Wehbi betont: «Am Anfang stand für mich die Frage: Wie würde García Lorca sein Stück heute schreiben?» Im Untertitel bezeichnete es der andalusische Dichter als «Tragödie von den Frauen in den Dörfern Spaniens». Das möchte Wehbi durchbrechen, weg vom allzu Lokalen, «sodass es mindestens in einer westlich-christlich-jüdischen, wenn nicht gar in einer globalen Gesellschaft verständlich sein kann».
Grosses Gewicht legen Wehbi und Àlvarez bei den Proben ihrer Berner Produktion auf die Arbeit an der formalen, dramaturgischen Umsetzung des Lorca-Stoffes. Die Inszenierung wird nicht linear eine Geschichte von A bis Z erzählen. Vielmehr wird sie um den thematischen Kern, die Phallokratie und ihre Folgen, kreisen – und dies sprunghaft.
Überbordend
So laborieren die beiden denn an der vorgefundenen Struktur des Stückes herum. Sie dekomponieren und streben danach, etwas Neues zu schaffen. Multiformal soll es werden, körperbetont, überbordender noch als barock. Daraus ergebe sich, so Wehbi, «eine verborgene Struktur mit stets neuen Wendungen und Überraschungen».
Was heisst das für das Publikum? Sie sollen – Bertolt Brecht steht Pate – das Dargebotene mit einer gewissen Distanz betrachten, damit sie ihr kritisches Potenzial schärfen können. Gleichzeitig will Autor und Regisseur Wehbi aber auch die Emotionen und das Bauchgefühl in ihnen anregen. Das soll schliesslich dem Publikum den inneren «Plan» des Stückes offenbaren. Im Idealfall werden die Zuschauer das Theater nach der Aufführung mit Widersprüchen und Konflikten verlassen, die sie auch weiterhin beschäftigen dürften.
Theater als kritikförderndes Vehikel, darauf richten die beiden und ihr Ensemble ihren Fokus. Und das täten alle Beteiligten «mit grösstem Enthusiasmus». Nun seien sie gespannt, sagen Wehbi und Àlvarez, ob sich dieser auf das Publikum übertragen wird.
«Fix zementiert»
Immerhin produzierten sie bisher noch nie ein Stück für ein Stadttheater. Die Arbeit in Bern gefällt ihnen in vielen Punkten, verursacht aber gleichzeitig auch leichtes Bauchweh. Emilio García Wehbi sieht das so: «Alles ist an einem Stadttheater durchorganisiert, bis hin zum Premierendatum. Uns steht eine funktionierende Infrastruktur zur Verfügung, und Geld ist auch vorhanden, das ist wunderbar.» Nur müsse stets alles und jedes von Beginn weg bedacht und fix zementiert werden, anders als in einer freien Produktion: «Wenn wir im Verlauf der Proben feststellen, dass wir uns verrannt haben, können wir nichts mehr auf den Kopf stellen und nach neuen Wegen und Lösungen suchen». Wie die beiden sich aus dieser Schlinge ziehen, darf mit Spannung erwartet werden.