Ein Schritt in den stockdunklen Theatersaal und man findet sich in einem Albtraum wieder. Über die Bühne huschen sieben düstere Gestalten, die sich in einem zischenden Kauderwelsch unterhalten. Nur das Licht einiger Hellraumprojektoren beleuchtet die absonderlichen Wesen. «Beware the Jabberwock, my son!», hört man aus dem Geflüster und Gekrächze heraus. Einer nach dem andern wiederholt die Warnung, bis sie zur Unkenntlichkeit verzerrt ist und die Gestalten nacheinander tot umfallen.
Die Szene stammt aus «Alice hinter den Spiegeln», der Fortsetzung von Lewis Carrolls berühmtem Roman «Alice im Wunderland». Die ältere Alice findet darin hinter einem Spiegel eine Parallelwelt, in der alle Gegenstände lebendig sind.
In einem Buch entdeckt sie
das lautmalerische Nonsens-Gedicht «Jabberwocky», das zu einem grossen Teil aus erfundenen Wörtern besteht. «Alice ist damit überfordert, weil sie das Gedicht nicht entschlüsseln kann», erklärt Regisseur Andreas Herrmann nach den Proben. In seiner Inszenierung wird der «Jabberwocky» von sieben schwarz gekleideten Vikaren dargestellt, die Alice mit ihren schulmeisterlichen Darstellungen auf Hellraumprojektoren verwirren. Und auch Alice selbst, die auf der Suche nach dem Sinn im Unsinn durch eine Traumwelt irrt, wird von drei Schauspielerinnen verkörpert. «Alice ist zu einer Art Archetyp geworden. Wir besetzen sie mit verschiedenen Persönlichkeiten, Temperamenten und Altersklassen, wechseln zwischen Viktorianischem Zeitalter und Moderne», sagt Herrmann. Mit «Woyzeck» hat er bereits 2009 ein Stück des Trios Robert Wilson, Tom Waits und Kathleen Brennan inszeniert.
Drei Ebenen
Das Schauspielmusical «Alice» findet auf drei Ebenen statt: Die beiden «Alice»-Romane durchmischen sich mit der Biografie des Autors Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll (siehe Kasten). Ein Schwerpunkt der Inszenierung liegt auf seiner Beziehung zu der zehnjährigen Alice, die nie ganz eindeutig war. «In radikalster Form wurde ihm Übergriffigkeit vorgeworfen», sagt Andreas Herrmann. «Wir deuten das sehr weit. Bei uns geht es vor allem darum, wie Alice damit zurechtkommt, als literarische Figur besetzt zu werden.» Der Autor Dodgson (Samuel Zumbühl) und Alice werden gleichermassen zu Wort kommen. Dodgson ist auch selbst in seine Geschichte verwickelt: Er ist das weisse Kaninchen, das Alice in das Wunderland entführt, und der weisse Ritter aus «Alice hinter den Spiegeln», der sie daraus errettet.
Traumlogik
Eine eigentliche Handlung gibt es nicht. Die Figuren aus
den «Alice»-Romanen vom Ei Humpty Dumpty bis zur Grinsekatze wirbeln wild durcheinander. «Wir übernehmen die absurde, assoziative Traumlogik aus den Romanen, tauchen aber dazwischen aus dieser Welt auf und reflektieren die Gefühlslage der Figuren», sagt Herrmann.
Und nicht zuletzt nimmt die eigens von Tom Waits komponierte Musik (siehe Seite 26) viel Raum ein: Der melancholische Bluesrocker hat Dodgsons surrealistische Traumwelten in Ton umgesetzt. Seine Arbeit an «Alice» nannte Waits «an odyssey in a dream of nonsense». In Luzern begleitet ein neunköpfiges Orchester der Hochschule Luzern unter der Leitung von Daniel Perrin die Schauspieler der Zürcher Hochschule der Künste und Ensemble-Mitglied Samuel Zumbühl. Dramaturgin Carolin Losch betont, dass es «nicht um eine Kopie von Tom Waits gehe – das wäre gar nicht möglich –, sondern um den Geist, der in der Musik steckt». Die Songs eröffnen mit ihren Geschichten eine neue Welt von «Alice». «Ich mag schöne Melodien, die mir schreckliche Dinge erzählen», sagte Waits einmal. Und von diesen dunklen Abgründen wird in Luzern zu hören sein, wenn das weisse Kaninchen,
das Ungeheuer Jabberwocky oder die Schachkönigin durch Traumlandschaften irren.