Herumliegende «Playboy»-Hefte in der Wohnung oder ein ausschweifendes Nachtleben: Solche «Vergehen» genügten früher in der Schweiz, um in einen Teufelskreis zu geraten. Jugendliche, die den Vormundschaftsbehörden negativ auffielen, wurden in Heime, psychiatrische Anstalten oder oft sogar ins Gefängnis abgeschoben, ohne ein Delikt begangen zu haben. «Administrativ versorgt» nannte sich diese Massnahme, die bis Ende der 70er-Jahre gang und gäbe war. Zwischen 1942 und 1981 gab es allein im Kanton Bern 2700 junge Menschen mit diesem Schicksal.
Klima der Kontrolle
Hansjörg Schneider widmet sich diesem düsteren und bisher weitgehend unerforschten Kapitel der Schweizer Geschichte in seinem neuen Theaterstück «Looslis Kinder» (siehe Interview). Durch Carl Albert Looslis Schriften wurde Schneiders Interesse für die Thematik geweckt. Der aufmüpfige Berner Journalist und Autor Loosli (1877–1959) fiel zu seiner Zeit etwa durch sein Engagement für Verdingkinder oder «administrativ Internierte» auf.
In «Looslis Kinder» schafft Schneider eine Sammlung von Impressionen quer durch 100 Jahre Schweizer Zeitgeschichte. «Der Text vermittelt das damalige Eindämmen der Lebenslust, das Klima der Kontrolle im Dorf, in der Schule oder in der Familie, die auf Gesetzesebene Niederschlag gefunden hat», sagt Regisseurin Liliana Heimberg. Sie sieht es als Herausforderung, diese Mosaiksteine in ihrer Inszenierung zu einem Ganzen zusammenzuführen. Dennoch wird es keine chronologische Handlung geben: «Es ist eher ein assoziatives Entspinnen, das auch bei der Arbeit mit den Schauspielern entsteht.» Nebst sechs Ensemblemitgliedern des Stadttheaters Bern sind 12 Kinder und 14 Jugendliche aus Theaterjugendclubs beteiligt.
Beim Probenbesuch legen sich Fabiola, Daniele und Vincent ins Zeug. Konzentriert loten die drei Jugendlichen immer wieder dieselben Textstellen aus, versuchen, den richtigen Ton zu finden. Heimberg, die oft mit jungen Darstellern arbeitet, lässt ihnen den Freiraum, ihre eigenen Bilder zu finden.
«Professionelle Schauspieler erkennen im Text sofort das Potenzial, mit Jugendlichen finde ich den Weg dahin», erklärt sie die unterschiedliche Herangehensweise. Auch die Vermittlung des historischen Hintergrunds gehört zur Vorbereitung. Inzwischen fangen die Jugendlichen selbst an, bei ihren Grosseltern nachzuforschen.
Flügel stutzen
«Sondern ich will meine Flügel entfalten», ist an der Bühnenwand mit Kreide festgehalten. «Die müssen gestutzt werden», haben die jungen Schauspieler spontan darunter geschrieben. Sie kennen zwar das rigide Gesellschaftssystem früherer Zeiten nicht, aber auch sie haben Erfahrungen mit Strafe oder Ungerechtigkeiten, mit dem Zurechtstutzen auf ein regelkonformes Verhalten. Diese können sie ins Spiel miteinbeziehen.
Trotz des dunklen Themas blitzt dann und wann auch die Komik auf, die sich nur schon in Schneiders Sprache manifestiert. «Diese Gratwanderung wollen wir auch in der Inszenierung rüberbringen», sagt Heimberg.
5 Fragen an Hansjörg Schneider zu seinem Stück «Looslis Kinder»
«Beim Nachdenken kam die Wut auf»
kulturtipp: Herr Schneider, zuerst wollten Sie kein Stück zum Thema «administrativ Versorgte» schreiben, weil die Wut zum Schreiben von Dramen fehle. Wo hat sich die Wut dann doch noch eingestellt?
Hansjörg Schneider: Ich sagte zuerst ab, weil ich generell kein Theaterstück mehr schreiben wollte. Aber das Stadttheater Bern suchte nach einem Autor, der diese Zeit noch erlebt hat – das hat mir eingeleuchtet. Mir kam sofort Carl Albert Loosli in den Sinn, und ich habe mich in seine Schriften sowie seine Biografie vertieft. Das war eine richtige Entdeckung! Die Wut kam wieder auf, als ich über diese Zeit und meine eigenen Erlebnisse nachdachte.
Sie haben also auch stark persönliche Bezüge in Ihren Text eingewoben?
Ja, in «Looslis Kinder» habe ich nichts erfunden. Ich selbst bin zwar wohlbehütet aufgewachsen, aber ich habe Erinnerungen an meinen Vater, der in der Familie alles bestimmt hat. In meiner Generation herrschte ein Klima der Kontrolle. Vor allem in der Schule haben sie uns terrorisiert. Wir Kinder wurden als faul und frech angesehen – und mit rigiden Strafen getrimmt. Einem Schulkollegen platzte nach Schlägen des Lehrers einmal das Trommelfell. «Das kann passieren», sagte der Lehrer nur dazu. Und einer Kollegin wurden die Hände blutig geschlagen, weil sie Linkshänderin war.
Kommen diese Szenen in «Looslis Kinder» vor? Wo schlagen Sie den Bogen zu den «administrativ Versorgten»?
Ja, das Stück ist eine Collage aus Szenen, die ich selbst erlebt oder von anderen mitgekriegt habe, sowie Szenen aus Looslis Schriften. Die Thematik der «administrativ Versorgten» habe ich nicht in meiner nächsten Umgebung miterlebt. Aber meine Mutter hat etwa in einem Heim für Schwererziehbare gearbeitet, wo Demütigungen vor allem seitens der Männer gang und gäbe waren.
Wie eng arbeiten Sie bei der Inszenierung mit? Was ist Ihnen wichtig bei der Umsetzung Ihres Textes?
Ich habe bereits mehrere Arbeiten mit der Regisseurin Liliana Heimberg gemacht und vertraue ihr. Sie arbeitet zusammen mit den Schauspielern am Stück und macht Vorschläge – etwa wenn es in einer Mädchen-Szene um die weibliche Perspektive geht, die ich weniger gut kenne. An die Proben gehe ich selten – das langweilt mich, ich war in meinem Leben genug bei Theaterproben! Spannend an diesem Projekt finde ich vor allem, dass hier Jugendliche beteiligt sind, welche die Welt ganz anders kennen und einen anderen Blickwinkel einnehmen. Solche Themen werden sonst immer aus Erwachsenensicht behandelt.
So spielt es auch keine Rolle, dass Loosli in der Inszenierung nun nicht mehr wie ursprünglich in Ihrem Text im Zentrum steht?
Es sollte ja kein Stück über Loosli, sondern über das Thema der «administrativ Versorgten» werden. In meiner zweiten Textfassung taucht Loosli im Stück vor allem als Anwalt der Kinder auf. Diese Seite von ihm wollte ich hervorheben – darum auch der Titel «Looslis Kinder». Es ist trotzdem auch eine Hommage an Loosli, der ganz in der Nähe des Aufführungsorts in Bern Bümpliz lebte.