Das hübsche Dorf «Dogville» in den Rocky Mountains – auf der Bühne ein grosser Raum aus Metall, mit Höhen und Tiefen, zwischen denen man klettern kann. In einem kleinen Beet mit Erde wachsen Stachelbeeren. Die Frauen tragen geblümte Kleider, die Männer eintönige Hosen. Alles geht seinen Gang. Bis eines Tages Grace auftaucht, eine Fremde. Hungrig, durstig, orientierungslos. Sie ist um ihr Leben geflohen und sucht Schutz vor den Verfolgern. Nach langem Zögern nimmt man sie auf den Wunsch von Schriftsteller Tom in Dogville auf. Im Gegenzug bietet Grace ihre Arbeit an. Doch der Deal gerät aus dem Gleichgewicht, und Grace soll für ihr Bleiberecht immer mehr arbeiten. Schliesslich wird sie zum frei verfügbaren Objekt, nach Belieben missbraucht, vergewaltigt und erniedrigt.
Eigene Sinnlichkeit
Das Zürcher Schauspielhaus bringt mit «Dogville» die Geschichte des gleichnamigen Spielfilms von Lars von Trier (2003) auf die Bühne. Das Besondere daran: Der Film ist selbst Theater – oder tut zumindest so. Angst, dass das Stück zum Abklatsch werden könnte, hat Regisseur Stephan Kimmig aber nicht: «Die echte Theaterbühne bietet eine ganz eigene Sinnlichkeit. Anders als im Film ist unser Dogville beispielsweise ein sehr konkreter, realer Raum.» Die Zürcher Inszenierung unterscheidet sich vom Film zudem durch eine feinere Ausarbeitung der Figuren und Erzählebenen.
Während Nicole Kidman in der Rolle der Grace bei Lars von Trier als passives Opfer einer unausweichlichen Maschinerie dargestellt wird, das erst zum Schluss Rache übt, ist Katja Bürkle im Schauspielhaus von Anfang an aktiv und reflektiert, was passiert. «Ich finde es interessant, inwieweit Grace den Verlauf selbst mitbestimmt und warum sie nicht stärker gegensteuert», sagt Kimmig. Denn das Faible des Filmemachers Lars von Trier für die Opferung von Frauen und ihrem Körper sind ihm ein Graus: «Damit kann ich überhaupt nichts anfangen.»
Auch den Schriftsteller Tom zeichnet Kimmig diffiziler, in sich brüchiger und intelligenter als der Film. Neu ist zudem die Umsetzung der Erzählerfigur. Diese wird bei Kimmig zur eigenständigen Person, die sich in Beziehungen verstrickt und sich am Schluss selbst abschafft.
Der Zuschauer ist gefordert, einem komplexen Spiel mit drei Erzählebenen zu folgen und auf diese Weise aktiv mitzudenken. Das zumindest will Kimmig erreichen, denn für ihn ist «Dogville» ein aktuelles Lehrstück, dessen Moral an erster Stelle im Reflektieren besteht. Ganz in der Tradition des epischen Theaters legt er den Finger in die Wunden und stellt quälende Fragen: Wie empfangen wir von Krieg und Hunger verfolgte Menschen, die hier in der Schweiz Zuflucht suchen? Wie hoch ist das Gewaltpotenzial, das unter dem Firnis einer scheinbar funktionierenden Gesellschaft schlummert?
Kimmig sieht in der Geschichte von «Dogville» viele Parallelen zu unserer Realität: «Die Flüchtlingsthematik liegt auf der Hand. Aber es geht auch um unsere eigene innere Armut. Uns fehlt so viel an Empathie, Zärtlichkeit, Offenheit. Wir sind in uns selbst gefangen und sehen das andere, das Du, kaum mehr. Wenn wir nicht aus unserer Ich-Hülle herauskommen, dem anderen zuhören und das Fremde als eine grosse Qualität schätzen lernen, dann werden alle gleich – ein grauenhaftes Szenario.»
Aktuelles Lehrstück
Die Menschen in Dogville leiden unter diesem Mangel an Nähe, sie sind in ihrer abgeschotteten Welt vereinsamt und frustriert. Das Erscheinen von Grace zeigt ihnen die seelische Not auf, die sie bisher verdrängt hatten. Aus Kimmigs Sicht ein wesentlicher Schritt: «Nur, wer sich mit sich selbst auseinandersetzt, feststellt, was ihm fehlt, und zulässt, dass er manchmal Hilfe braucht, kann sich in die Lage eines objektiv Bedürftigen versetzen und seinerseits echte Hilfe geben.»
Dabei spielt die Suche nach der eigenen Identität eine wichtige Rolle – worin besteht sie und wie stiften wir Identität? Bevor wir nicht darüber nachgedacht haben, können wir kaum über eine Definition von Gemeinschaft reden, findet Kimmig. «In Dogville ist die individuelle Identitätssuche bei allen zu spüren. Sie vermissen eine Tiefe in sich.»
Die Unsicherheit der Figuren, deren Schlingern und Suchen in jeder Szene aufrechtzuerhalten, ist Kimmig ein zentrales Anliegen und gleichzeitig die grösste Herausforderung. Im Film sind ihm die Charaktere zu holzschnittartig dargestellt. «Als ich die Textfassung las, merkte ich erst, wie viel Offenheit, Unwissen und Sehnsucht in dem Stoff steckt. Den Film finde ich zu wenig subtil, ich will mehr Wendungen und Brüche, mehr Lebendigkeit auf die Bühne bringen.» Dazu trägt auch die Musik bei, welche die Darsteller auf der Bühne gezielt einsetzen, um spezifische Stimmungen oder Erzählebenen zu untermalen.
Im Morast
Am Ende scheitern die Menschen von Dogville an ihren eigenen Sehnsüchten. Anstatt an der Auseinandersetzung mit dem Fremden zu wachsen, bleiben sie stecken im Morast aus diffuser Angst, Verunsicherung und Distanziertheit. Die Demütigung von Grace, die ihnen mit ihrem Auftauchen ihre Nöte erst vor Augen geführt hat, erscheint als Ausweg und lenkt ab von den wahren Problemen mit sich selbst. Ob sich die Grace im Zürcher Schauspielhaus wie Nicole Kidman im Film blutig rächen und das Gleichgewicht der Welt wiederherstellen wird, bleibt bis zur Premiere am 15. September geheim. Zumindest in einem wird Lars von Triers Grace recht behalten: «I think the world would be better without Dogville.»
DVD
Dogville
Regie: Lars von Trier
DK/SWE 2003
DVD, 178 Minuten
(Concorde 2004).
Bühne
Dogville
Regie: Stephan Kimmig
Premiere: Do, 15.9., 20.00 Schauspielhaus Zürich
www.schauspielhaus.ch