Seltsame Gestalten tummeln sich auf einem riesigen schräg gestellten Kissen auf der Bühne im Schauspielhaus Zürich. Sie rutschen, hüpfen und kriechen, hängen kopfüber. Ihre Stimmen sind ins Groteske verzerrt, vom einnehmenden Märchen-Ton kippen sie ins Hysterische. Lichter zucken, leuchten auf die Kissenmitte, wo sich sechs Figuren auf Sprungfedern im Rhythmus der Sprache bewegen, zu Wippbewegungen im Chor ihre grausigen Märchen erzählen und singen. «Ich liebe Menschenfleisch», kreischt einer. Die Sprungfedern quietschen im Takt – und die Betrachterin wähnt sich in einem Albtraum. Ein grotesker Bilderreigen, in dem der Teufel mit den drei goldenen Haaren erscheint, Frau Holle auf Rumpelstilzchen und Aschenputtel trifft, alle zusammen eingesperrt in einem gigantischen, goldenen Käfig.
Keine Spur von einer gemütlichen Märchenrunde à la Trudi Gerster. «Grimmige Märchen» heisst das Stück denn auch, das der renommierte deutsche Regisseur Herbert Fritsch mit seinem Team im Schauspielhaus Zürich zur Uraufführung bringt.
Er stützt sich dabei auf die berühmte Sammlung der Brüder Grimm und fügt daraus Fragmente zu einem neuen Ganzen, einer eigenen Geschichte, zusammen. «Wir wollen einen anderen Blick auf bekannte und eher unbekannte Grimm-Märchen werfen, eine andere Leseart für sie finden», erklärt Dramaturgin Evy Schubert, die auch die Illustrationen für das Programmheft gestaltet hat. Die Zeichnungen widerspiegeln die Ambivalenz der Geschichten: Komische und grausame Elemente, sexuelle Konnotationen, Skurriles und Tragisches stehen nahe beieinander.
Neue, radikale Zusammenhänge finden
Das Theaterteam nimmt ebendiese Widersprüche auf, nähert sich den Märchen aber weniger über ihren Inhalt oder die psychologische Deutungsebene, sondern über die Form. «Es war einmal …», damit beginnt ein Märchen, und am Schluss «lebten sie alle glücklich bis an ihr Lebensende». Dazwischen stehen häufig drei Prüfungen, ein Initiationsprozess, der zur Entwicklung der Hauptfigur beiträgt. «Uns hat diese Matrix interessiert: Wir fügen diese festen Codes zu einem neuen System zusammen», sagt die Dramaturgin. Für die Archetypen und Metaphern, die den Märchen eigen sind, wollen sie eigene Interpretationen finden, Klischees bewusst ausspielen oder kontrastieren. «Über die Form können sich neue, radikalere Zusammenhänge auftun», ist sie überzeugt.
Vom lieblichen Erzählton befreien
Das Spiel der Darsteller erinnert in ihrer Vergrösserung manchmal an die Commedia dell’Arte oder den Stummfilm. «Durch eine expressive Überzeichnung lassen sich Gewalt, Perversion, der Schock, Einsamkeit, Zwanghaftigkeit und nicht zuletzt die Komik anders vermitteln», sagt Evy Schubert.
Herbert Fritsch setzt auf die Kraft der Bilder und sucht nach einem neuen Ausdruck für die altbekannten Märchen. Ein Beispiel ist der eigene Tonfall, in dem sie für gewöhnlich erzählt werden – das Lieblingsmärchen hat fast jeder noch aus Kinderzeiten im Ohr. «Dieser bestimmte Ton ist in unserem kulturellen Gedächtnis verankert. Wir wollen uns davon befreien, damit sich die Bilder anders entfalten, neue Entdeckungen möglich sind», wie Evy Schubert sagt. Und so steigert sich auf der Bühne etwa die übertrieben liebliche Erzählerstimme ins grotesk Verzerrte eines Albtraums.
Seit 200 Jahren in der Märchenwelt gefangen
Die acht Schauspieler sind in ihren schnell wechselnden Rollen also weniger Märchenonkel und -tanten, sondern Überbringer surrealer Angst-, Traum- oder Fantasie-Bilder. Über die Kostüme von Victoria Behr lassen sich die einzelnen Märchenfiguren von König Drosselbart bis Schneewittchen zwar erkennen, sie agieren aber anders, als man es von ihnen gewohnt ist. Das von Herbert Fritsch kreierte Bühnenbild mit dem goldenen Käfig steht sinnbildlich für die Figuren, die seit rund 200 Jahren in ihrer Märchenwelt gefangen sind und sich nun auf eine andere Weise begegnen. Dennoch sind die Figuren alles andere als angestaubt: In ihnen wird das Grundwesen der Menschen verhandelt – ihre Sehnsüchte, Triebe, Ängste, Hoffnungen. «Märchen stellen zudem soziale, politische und gesellschaftliche Fragen», ergänzt Schubert. «Wenn sich etwa am Schluss zwei Königsreiche zusammenschliessen, widerspiegelt das die moderne Staatenbildung.»
Derweil haben sich die Figuren auf der Bühne aus ihrem Albtraum gelöst. Schauspieler Markus Scheumann gurrt auf der Bühne wie eine Taube: «Rucke di guh, Blut ist im Schuh …» Unverkennbar Aschenputtel – bis zum Moment der Brechung. Und schon befinden sich die Zuschauer im nächsten Märchen, lassen sich auf dem fliegenden Teppich davontragen in die neue Welt der Brüder Grimm.
Grimmige Märchen
Premiere: Fr, 7.4,. 20.00
Schauspielhaus Zürich
Von Zwergen und Prinzen
Die verwunschene Prinzessin im Schloss und die böse Stiefmutter, der verzauberte Frosch und die sieben Zwerge: Jeder kennt die Figuren aus der berühmten Sammlung «Kinder- und Hausmärchen» von den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm, die erstmals 1812 erschienen ist und über 40 Jahre lang mit Geschichten ergänzt wurde. Die Brüder versammelten darin überliefertes Volksgut, das bis heute nicht an Faszination bei Kindern und Erwachsenen eingebüsst hat. Nebst der Luther-Bibel gilt sie als das bekannteste und meist-übersetzte Buch deutscher Sprache. Sie fand Eingang in Theater und Film, Psychoanalyse und Pädagogik. Die Märchen, so abstrakt sie sind, erzählen von den Urfantasien der Menschen. Oft lösen sie ein Schaudern aus, aber stellen am Ende die Weltordnung wieder her: Gut und Böse sind klar aufgeteilt – und meist siegt das Gute.