Momente der Beklemmung. Die Häftlinge nähern sich dem Zuschauer bedrohlich und schreien: «Kennen Sie Luca?», «Fahren Sie regelmässig nach Zürich?», «Ihre Freunde werden Sie sowieso verraten!». Die Gefangenen schleudern diese klassischen Verhörfragen dem Probenbesucher entgegen. Dies ist Teil der Inszenierung «Wild im Herz», die demnächst in der Haftanstalt Lenzburg zu sehen sein wird. Unter der Leitung der jungen Appenzeller Regisseurin Annina Sonnenwald spielen sieben Häftlinge Szenen ihres eigenen Lebens im geschlossenen Strafvollzug. Ort des Geschehens ist eine unterirdische Turnhalle, die zu einer Bühne umgebaut ist: Fünf Vorstellungen mit maximal 100 Zuschauern sind vorgesehen.
Mit Witz und Akrobatik
Die Schauspieltruppe ist ein Spiegelbild der multikulturellen Schweiz: Da sind etwa ein Libanese, ein Mexikaner oder ein Nigerianer, und auch zwei Schweizer spielen mit. Die meisten sind jung, mit Ausnahme des Häftlings H., eines molligen Grossvaters der gutmütigen Sorte. Er spielt am liebsten auf seinem Akkordeon, das Instrument mit einem Emblem des FC-Basel versehen, den er so sehr liebt.
Regisseurin Annina Sonnenwald hat das einstündige Theaterstück mit den Häftlingen entwickelt. Sie will die Straftäter dem Publikum näherbringen, «um Vorurteile abzubauen», wie sie sagt. Entsprechend der Aufbau des Stücks: Zu Beginn der Vorstellung die Bedrohung durch die Gesetzesbrecher, dann entwickelt sich eine zunehmende Nähe zwischen Schauspielern und Publikum. Das alles geschieht mit Witz – und akrobatischen Einlagen inklusive. Etwa wenn der Nigerianer A. wie ein Gummiball mit einer Reihe von Rückwärtssaltos quer durch die Turnhalle springt. Ein zirkusreifer Auftritt, bei dem seine Zellengenossen jedes Mal anerkennend klatschen. Der junge Afrikaner kennt sein gymnastisches Potenzial: «Ich halte mich fit und hoffe, nach meiner Freilassung, damit Geld zu verdienen.» Man hofft mit ihm, es möge gelingen.
Der Libanese A. wiederum besticht durch eine Art selbst geschriebenen «Gangsta-Rap»: «Tausendmal wollte ich essen, hatte kein Geld, musste Leute erpressen», schleudert er dem Publikum entgegen. Und man bezieht als Zuschauer innerlich Stellung – für den Rapper, ohne an die Erpressten zu denken.
Denn Nähe schafft Vertrauen: Sieht man den Häftlingen bei ihrer konzentrierten Arbeit mit der Regisseurin zu, erkennt man als Zuschauer keinen Grund, weshalb diese Schauspieler von der Gesellschaft weggesperrt sind. Ohne ihre Lebensgeschichte zu kennen, könnten sie ebenso gut in der Lenzburger Altstadt auftreten und anschliessend gemeinsam ein Bier trinken gehen.
Man möchte diese Jungs gerne näher kennenlernen, etwa den lebenslustigen Mexikaner R., der in dem Stück eine köstliche Michael-Jackson-Parodie hinlegt. Der Mann hat offenkundig schauspielerisches Talent und ist anscheinend auch sprachlich begabt. Er spricht astreines Englisch, lernt dazu Deutsch und sagt treuherzig: «Ich bin zum ersten Mal in Europa.» Wahrscheinlich hätte er sich für seinen Aufenthalt ein anderes Hotel gewünscht.
Eine muntere Truppe lockerer Burschen also? Nicht ganz, manchmal blitzen plötzlich unbehagliche Momente auf, etwa als die Rede auf einen Kollegen kommt, der die Probe schwänzt. Das Wort «Kollegenschwein» fällt mit bedrohlichem Unterton.
Respektvoller Umgang
Ein anderer sagt, dass der Abwesende was zu hören bekommt, «wenn ich ihn am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit sehe». Und man hat den leisen Eindruck, dass der möglicherweise nicht nur etwas zu hören bekommt. Solche Aggressionen verarbeiten die Schauspieler auch in ihrem Stück. So schreien sie sich in einer Szene gegenseitig an. Und der Zuschauer merkt schnell, dass sie diesen Part nicht allzu häufig üben mussten.
Sonnenwald hatte letztes Jahr die Idee zu diesem Stück gehabt. Sie setzte sich mit der Direktion der Justizvollzugsanstalt Lenzburg in Verbindung, wie das Gefängnis auf Amtsdeutsch heisst, und fand Unterstützung. Seit Oktober probt sie mit den Häftlingen und freut sich über ihre Erfahrungen. Wie beim Besuch zu sehen ist, hat sie sich den Respekt der Gefangenen verschafft: Sie folgen ihren Anweisungen, ohne dass sie laut werden muss. «Zuerst mussten sie etwas Stärke markieren», sagt Sonnenwald, «aber das hat sich schnell ergeben.» Sie habe auch niemals eine bedrohliche Situation erlebt. Zumal sie mit den Häftlingen nicht allein ist. Sonnenwald arbeitet mit der Choreografin Simona Hofmann, einer Regieassistentin, mit einem Schlagzeuger und einer tadschikischen Sängerin, die persische Lieder singt. Etwa das Klagelied eines zum Tode Verurteilten. Nicht ganz passend im zeitgemässen Strafvollzug, aber dafür umso eindrücklicher.
Jetzt steht die Truppe vor der Premiere, Lampenfieber ist noch nicht zu spüren. Während einer Probenpause tun sie sich wie grosse Kinder an einer Linzertorte gütlich und klopfen locker ihre Sprüche.
Schicksalsgemeinschaft
Sie wissen, dass sie nur auf Zeit eine kleine Schicksalsgemeinschaft sind. Denn nach den Aufführungen kommt einer in den offenen Strafvollzug, eine anderer wird in eine ungewisse Zukunft im Kosovo abgeschoben. Wiederum andere müssen noch ein paar Jahre hinter Gittern ausharren. Und einer, ja, der wird kaum mehr rauskommen, weil er zur Verwahrung verurteilt ist.
Aber dennoch, wie sagte doch der Schweizer H. gleich zu Beginn der Probe? «Für mich ist das hier ein Stück Freiheit.» Das ist schon viel.