Der Star der Probenszene ist eine Kuh mit prächtigen Hörnern: Flankiert von zwei Männern aus der «helvetischen Armee» trottet sie vorbei an der Zuschauertribüne. Kaum im Schatten angelangt, bockt sie und muht gelangweilt in die Runde – zum Theaterspielen ist es ihr heute zu heiss. Nicht so die menschlichen Darsteller, allen voran Schauspielerin Karin Wirthner in der Rolle der rebellischen Ratsherrin Veronika Gut. Ganz in Schwarz gekleidet steht sie auf dem Landsgemeindeplatz am Freiheitsbaum, Symbol der Französischen Revolution. Um den Hals trägt sie ein Schild: «Ruhestörende Lügnerin». Hoch erhobenen Hauptes harrt sie in der sengenden Hitze am Pranger aus.
Auf der Freilichtbühne auf dem Ballenberg wurde die Uhr zurückgedreht ins Jahr 1800: Die Stanserin Veronika Gut (1757–1829) wurde vom Kantonsgericht Schwyz wegen «widriger Lästerreden» verurteilt. Die wohlhabende Witwe und Mutter von sieben Kindern steht auf der Seite des Ancien Régime, Vaterländer genannt. Sie kämpft gegen die Anhänger der von Napoleon eingesetzten helvetischen Regierung, die sogenannten Patrioten. Zwei Jahre zuvor waren bei einer verheerenden Schlacht zwischen Franzosen und Nidwaldnern rund 400 Einheimische umgekommen, unter anderem Veronikas 17-jähriger Sohn. Mit verbissener Wut kämpft sie gegen die neue Ordnung, schreckt vor Waffengewalt nicht zurück und ist bereit, alles zu opfern. Die Bevölkerung ist derweil gespalten. Von der einen Seite schlägt ihr Bewunderung, von der anderen Seite Hass entgegen.
Eine mutige, aber kontroverse Frauenfigur
«Veronika Gut ist keine Heldin oder Sympathieträgerin, sie ist eine kontroverse Figur. Aber sie war in einer Zeit, in der die Frauen in der Politik nichts zu sagen hatten, unglaublich mutig», sagt die Stanser Schauspielerin Karin Wirthner in einer Probenpause, während sich das vielköpfige Theaterteam mit Brot und Landjäger stärkt. Diese Ambivalenz reize sie an ihrer Rolle, auch wenn sie Guts Ansichten zum Teil fragwürdig finde. «Um mich in sie hineinzuversetzen, habe ich mich gefragt, warum sie so gehandelt hat und solche immensen Kräfte gegen den Fortschritt entwickelt hat. Ihr Verhalten liegt in der Angst begründet: Sie war durch den Krieg und den Verlust ihrer Kinder traumatisiert.» Ihr Leiden hat sie für die Schauspielerin menschlich gemacht: «So konnte ich ihre Wut besser verstehen.»
Auch die Regisseurin Marlise Fischer hat diese für ihre Zeit aussergewöhnlich selbständige Frau sofort interessiert, als sie das Stück von Andreas Berger gelesen hatte. In ihrer Inszenierung will die Bernerin die im Umbruch begriffene Atmosphäre dieser Zeit rüberbringen: «Die Gesellschaftsordnung kam 1800 ins Wanken, die Trennung von Kirche und Staat stand an. Das Leben der Leute war «ungeropsi», sie mussten sich entscheiden, mit wem sie paktieren wollen.»
Parallelen zu heutigen Umbruchszeiten lassen sich ziehen: eine gewisse Orientierungslosigkeit und die Angst vor äusseren Einflüssen. Die Inszenierung auf dem Ballenberg verbleibt aber in der alten Zeit. Die Kostüme sind aus historischen Schnittmustern entstanden. Damals war die Empire-Mode mit höheren Taillen und Puffärmeln der letzte Schrei aus Paris. Im konservativen Stanser Dorf ist diese freilich noch nicht angekommen, hier gilt die alte Mode.
Fiktive und historisch verbürgte Figuren
Das Bühnenbild ist im Freilichtmuseum Ballenberg bereits gesetzt: Das Stück spielt vor dem «Haus aus Wila» im Teil «östliches Mittelland». Das um 1680 entstandene Bauernhaus aus dem Zürcher Oberland, die angrenzenden Riegelhäuser aus dem 18. Jahrhundert, der nahe gelegene Schweinestall, der Dorfbrunnen und das rauschende Bächlein bieten die passende Kulisse für das historische Stück.
Laut läuten nun die Kirchenglocken – der Originalton aus Stans – und die 33 Laienschauspieler strömen zur ersten Probenszene auf den Platz. Auf die am Pranger stehende Ratsherrin reagieren sie unterschiedlich. «D Veronika Gut isch u blibt en Ufwieglere. Die wird e ke Rue gä», meint Ludwig Maria Kayser, Bezirksstatthalter von Nidwalden. Im strammen Hochdeutsch kommt die Antwort von Heinrich Zschokke, Kommissär der helvetischen Regierung: «Frauen, Kayser, Frauen sind eine unwissende und tumbe Masse, fast wie Kinder, ohne die Fähigkeit zum eigenen Denken. Ohne die Führung durch den Mann sind sie verloren …»
Kayser und Zschokke sind nebst Veronika Gut historisch verbürgte Figuren im Stück. Andere wie die Randständige Chalen-Dorli, gespielt von der Berner Schauspielerin Silvia Jost, sind fiktiv. In ihrer Position hat sie nichts mehr zu verlieren und kann unangenehme Wahrheiten laut herausposaunen wie einst die Hofnarren. «Gloubet mr, i ghöre i mänge Nächt d Schreie vo de Froue, ds Knischtere vom Füür, das Chiyche u Söifere vo hemmigslose Soudate!», schleudert das Chalen-Dorli den vornehmen Herren Zschokke und Kayser an den Kopf. Hier gärt noch mancher Konflikt, den die «Ballenberger» in 26 Aufführungen auf der Freilichtbühne austragen.
Veronika Gut – Aufruhr in Nidwalden
Premiere: Mi, 5.7., 20.15
Haus aus Wila Ballenberg West Hofstetten BE
www.landschaftstheater-ballenberg.ch