Bühne - Der einäugige Koloss am Bielersee
Im Expoparc in Biel startet demnächst das Freilichtspektakel «Cyclope» frei nach Jean Tinguely. Ein Probenbesuch am Bielersee, wo die Zirkusartisten durch die Lüfte fliegen.
Inhalt
Kulturtipp 14/2012
Babina Cathomen
Schon von Weitem ist das 15 Meter hohe Stahlgebilde, eine Mischung zwischen Achterbahn und Eisenmonster, zu sehen. Es knarzt und rattert, Hammerschläge, Sägegeräusche und Musikfetzen ertönen beim Näherkommen. Auf dem ehemaligen Expo-Gelände in Biel herrscht reger Betrieb. Zwischen Metallteilen in allen erdenklichen Formen, Autoscootern, Wohnwagen und Holzbrettern klettern muskulöse Artistinnen und Artisten behände auf dem Gerüst herum. Auf dem Tram...
Schon von Weitem ist das 15 Meter hohe Stahlgebilde, eine Mischung zwischen Achterbahn und Eisenmonster, zu sehen. Es knarzt und rattert, Hammerschläge, Sägegeräusche und Musikfetzen ertönen beim Näherkommen. Auf dem ehemaligen Expo-Gelände in Biel herrscht reger Betrieb. Zwischen Metallteilen in allen erdenklichen Formen, Autoscootern, Wohnwagen und Holzbrettern klettern muskulöse Artistinnen und Artisten behände auf dem Gerüst herum. Auf dem Trampolin üben sie ihre spektakulären Sprünge, rufen sich im Sprachengewirr zwischen Englisch, Finnisch und Berndeutsch Ratschläge zu.
Mittendrin steht Regisseur Philipp Boë, der von der Tribüne aus übers Mikrofon die 13-köpfige Artistentruppe anleitet. Jedes kleinste Detail muss sitzen, damit der 25 Tonnen schwere Stahl-Zyklop an der Premiere zum Leben erwacht. Und weil das Wetter am See unberechenbar ist, gibt es laut Boë für jede Szene mehrere Varianten – bei Sturmböen lässt es sich etwa schlecht über das Hochseil tanzen und bei Feuchtigkeit wirds auf dem Stahlgerüst gefährlich.
Jahrelang getüftelt
Drei Jahre lang haben Philipp Boë und der Musiker Markus Gfeller getüftelt. Die beiden hatten auf demselben Gelände schon das Theaterspektakel «Don Quijote» realisiert. Das neue ambitionierte Riesenprojekt orientiert sich an der Skulptur «Le Cyclop» des Freiburger Künstlers Jean Tinguely (siehe Box rechts). Bühnenbildner Daniel Waldner und Marc Calame haben dafür sieben verschiedene Modelle erarbeitet, von denen eines nun in voller Grösse den Expoparc überragt.
Ganz ohne Worte
Das Stück kommt ganz ohne Worte aus: Alleine durch Musik und Artistik entwickelt sich die Geschichte des Einzelgängers Mick, der auf einem verlassenen Jahrmarkt lebt. Eines Tages tauchen die Geister einstiger Artisten, Tänzer, Clowns und Schaubudenbesitzer auf. Mick verliebt sich in die schöne Sanna, die ihn zum Bau eines gigantischen Kopfs anregt.
Das Publikum erlebt während des Stücks live die Entstehung des Zyklops mit. Herumliegende, undefinierbare Schrottteile entpuppen sich nach und nach als Teile eines Gesichts. Das Ohr schlenkert plötzlich nach vorne, zwei Artisten hieven die Nase mit einer Seilwinde nach oben, und einer rollt den riesigen Augapfel auf einer Schiene hoch. Nun fehlt noch das mit Pfauenfedern bewimperte Lid, das ein Artist auf dem Rücken raufschleppt. «Wir zeigen im Stück den Kreationsprozess des Tinguely-Projekts und die Kraft der Vision, die diesem zugrunde liegt», erklärt Boë.
Bei der Umsetzung des Projekts sind rund hundert Leute beteiligt – vom Bauarbeiter über den Schlosser bis zum Künstler. Die 13 Artisten aus sieben Ländern müssen nicht nur herausragende artistische Fähigkeiten mitbringen: «Sie werden nicht einfach ihre Nummern abspulen, sondern sich kreativ einbringen, die Geschichte ‹miterzählen›», sagt Gfeller. In einer Art «Vintage-Zirkus» mit Kostümen aus den 20ern und 30ern werden sie die Magie des Jahrmarkts und des Zyklop-Kunstwerks heraufbeschwören. Fünf Musiker erzählen zudem mit eigens für das Stück komponierten Songs auf alten Instrumenten und mit Gesang die Geschichte auf ihre eigene Art. Das Spektakel startet jeweils bei Sonnenuntergang. In diesem Dämmerzustand zwischen Wachen und Traum kann sich der Zauber erst richtig entfalten.
Wilder Mix
Boë und Gfeller würfeln Nouveau Cirque, Karl’s kühne Gassenschau, Theater und Kunstspektakel wild durcheinander. Durch die vielschichtigen Ebenen des Stücks sollen die Kunsthistorikerin genauso angesprochen werden wie etwa der zehnjährige Zirkusfreund. Erwartet werden rund 25 000 Besucher, die auch durch ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Skulpturenausstellung, Variété, Konzert oder Zauberei ihre eigene Kreativität und Fantasie entdecken sollen.
Das Original
Versteckt im Wald von Milly-la-Forêt bei Paris steht Jean Tinguelys (1925–1991) begehbare Skulptur «Le Cyclop», die den Bieler Theatermachern als Vorlage zu ihrem Freilichtspektakel dient. Über 22,5 Meter hoch und 300 Tonnen schwer ist der überdimensionale Kopf, der als eines der Hauptwerke des Künstlers und Freidenkers gilt. Rund 20 Jahre lang hat der Freiburger zusammen mit seiner Frau Niki de Saint-Phalle und Künstlerfreunden wie Bernhard Luginbühl sowie Yves Klein an diesem Projekt gearbeitet. Fertiggestellt wurde die Monumentalskulptur aber erst nach seinem Tod 1991.
Die aus Eisengitter und Spritzbeton geformte Gesichtsform, die Tinguely zuerst «le monstre dans la forêt» nannte, ist mit ratternden und quietschenden Zahnrädern ausgestattet, über die Zunge plätschert Wasser herab. Niki de Saint-Phalle hat die Skulptur vollständig mit Spiegeln überzogen, sodass sich die Farben und das Lichtspiel der Natur in der Riesenplastik widerspiegeln. Filme über Jean Tinguely, die auch im Rahmenprogramm des Bieler Freilichtspiels in einem alten Zirkuswagen gezeigt werden, dokumentieren die Entstehung der Riesenplastik.