Gion Bi, der «Dorfpoeticus», hat einen schweren Stand bei den Bündner Berglern. Er ist zwar schon seit 18 Jahren tot – «der Teufel, er holt auch die Schö-nen» –, aber Gesprächsstoff bietet er immer noch am Stammtisch der «Helvezia». «Schreiben ist dubioser, als Schädel auskochen, wo das hinführt, wissen wir ja, farruct geworden ist er ab der Dichterei, wenn er mindestens auf der Höhe seiner Kunst gestorben wäre.» So die pointierte Meinung von Luis da Schlans, dem Skilehrer mit dem Steinbock auf dem Ärmel seiner blauen «Skijacca».
Willkommen in Arno Camenischs Bündner Beizen-Biotop! Hier tummeln sich nebst dem kernigen Luis Charakterköpfe wie der «Dorfcuafför» Alexi, Otto mit dem «Bart wie eine Schaufel», die Schnäpsli trinkende «Tatta» (Grossmutter) oder die Tante, der die «Helvezia» gehört und die ihre Gäste mit viel Flüssigem versorgt.
Erinnerungsschichten
Die junge Regisseurin Maria Ursprung verwandelt die Dorfbeiz in einen abstrakten Raum: Beim Probenbesuch springt eine lange Holzbeige ins Auge, vom Stammtisch im Roman fehlt hingegen jede Spur. Ursprung will in ihrer Inszenierung das Allgemeinmenschliche betonen: «Egal, ob Stadt oder Land, es geht um eine Gemeinschaft, um Menschen und Begegnungen.» Das karge Bühnenbild hat das Produktionsteam so gewählt, dass das Publikum den «Kneipenraum assoziativ weiterdenken» kann, wie Ursprung erklärt. Im Verlauf des Theaterabends werden die Holzscheite aus der Beige entfernt, umgeschichtet oder auf der Bühne verteilt – so wie die Erinnerungen und Geschichten, welche Luis, Alexi, Otto und Co. an ihrem letzten Abend vor der Schliessung der «Helvezia» ausgraben und einander zum Besten geben. Die Geschichte vom Lehrer Cristiani etwa, einem «Berg von einem Mann», den man nach seinem Tod nochmals ausbuddeln musste – hatte man doch den Lohn in seiner «Tschopentasche» vergessen.
Schweizer Dorfkultur
Ob «Saich», wie Alexi nach Ottos Anekdote behauptet, oder nicht: Gut erfunden ist es allemal. Der 34-jährige Arno Camenisch beherrscht das Geschichtenerzählen in seiner Bündner Roman-Trilogie, die mit «Ustrinkata» den Abschluss findet. Die Bücher des jungen Literaturtalents aus dem Bergdorf Tavanasa wurden inzwischen in 19 Sprachen übersetzt – selbst in China interessiert man sich anscheinend für die Schweizer Dorfkultur. Den Reiz seiner Romane machen zum einen die grotesken und dennoch aus dem Leben gegriffenen Geschichten aus. Zum andern aber auch die rhythmische Sprache, gespickt mit rätoromanischen oder Bündner Ausdrücken.
Bis alles erzählt ist
Camenischs Kunstsprache ist denn auch eine besondere Herausforderung für Regisseurin Ursprung. Sie streut in ihrer Inszenierung zur Erläuterung des Ambientes einige Stellen aus Camenischs Zweitling «Hinter dem Bahnhof» ein, der mit demselben Personal auskommt. Ansonsten hält sie sich aber eng an den Originaltext «Ustrinkata». «Arno Camenischs Roman ist bereits sehr szenisch und auf Pointen hin geschrieben. Da müssen wir nicht noch weit suchen und umschreiben.»
Mit dem Autor selbst hat das Schauspiel- und Produktionsteam über die Inszenierung diskutiert. Camenisch hat den Schauspielern wertvolle Hinweise geben können, wie die Figuren entstanden sind. Ursprung hat Camenischs Stammtisch-Personal auf acht Figuren verteilt, die von vier professionellen Schauspielern und vier Laienschauspielern dargestellt werden. Bündner Dialekt spricht keiner von ihnen. «Aber ich habe das Stück bewusst mit Schweizern besetzt, denn der Sprachrhythmus ist sehr schweizerisch; den muss man spüren», sagt Ursprung. Zu Probebeginn wurde die ganze Bandbreite zwischen Bühnendeutsch und Mundart ausgelotet. Im Stück sind nun verschiedene Variationen zu hören.
Musikalisch begleitet werden die Schauspieler von Isidor (Herwig Ursin). In Camenischs Roman taucht er zweimal im Indianerkostüm auf, spricht aber nichts. In Ursprungs Fassung liefert er mit Akkordeon und Tuba den musikalischen Klangteppich. Stets im Hintergrund zu hören ist auch der endlose Regen. Er begleitet die «Helvezia»-Gäste bis zum Schluss, bis das letzte Glas ausgetrunken und die letzte Geschichte erzählt ist.
Ein Hörspiel im kernig-melodiösen Bündner Dialekt
Es wird geraucht und gehustet, gelacht, gewettert und in der Vergangenheit geschwelgt am Stammtisch in der Beiz «Helvezia». Und gebechert: «No an Quintin», «an Caffefertic», «an grossa Kübel». Die Grossmutter bekommt Schnaps mit Weihwasser. Es ist «Ustrinkata», der letzte Abend, bevor die Beiz in diesem Dorf in der Surselva geschlossen wird. Draussen regnet es. Die Niederschläge erreichen fast sintflutartige Dimensionen. So wie schon einmal, wars 1985? Nein, 1987. Jedenfalls: Der grosse Stein im Rhein ist fast schon unter Wasser, so wie damals. Erinnerungen werden wach, an Geschichten, die man sich von früher erzählt hat, an selbst Erlebtes. Der verheerende Steinschlag anno 1927, die Geschichte vom Onkel, der für 36½ Jahre nach Amerika auswanderte, zurück-kam, nur gerade ein halbes Jahr blieb und spurlos verschwand. Otto, der am Tisch hockt, galt einst als grosses Radrennfahrertalent. Es wurde aber nichts daraus. Otto war auch mal weg, als Witwer musste er in Mississipppi Trauer-Distanz von daheim gewinnen. Man erinnert sich an Josephi, der seine Frau verprügelte. An den Kirchen-Organisten Pankraz. Lebensweisheiten werden formuliert: «Wenn ma schtirbt, isch wichtig, nid, wenn ma gebora isch.» Oder: Liebe ist, zwischendurch einen Hirsch heimzubringen und auf dem Küchentisch abzulegen.
Arno Camenischs im Hörspiel lebendig gewordene Szenen und Gespräche aus dem Dorf sind im kernig-melodiösen Bündnerdeutsch vernehmbar. Der Autor hat seinen Roman zusammen mit Regisseur Geri Dillier zum Mundarthörspiel bearbeitet. Zu hören sind Corin Curschellas (Tante), Andrea Zogg (Otto), Gian Rupf (Luis), Rebecca Indermaur (Silvia), Kurt Grünenfelder (Alexi), Federico Emanuel Pfaffen (Gion Baretta), Maria Cadisch (Grossmutter).