Zürich im frühen November. Die Einkaufsstrassen im Zentrum rüsten sich für den Weihnachtsverkauf. Manche Schaufenster versinken bereits in Kunstschnee und glitzernden Auslagen. Im Kramhof, dem Hauptsitz der Buchhandlungs-Kette Orell Füssli, schimmern Girlanden, Säulen sind mit Plastik-Ästen zu Tannenbäumchen drapiert. Der dreistöckige Laden ist gut besucht. Am meisten Kundinnen finden sich vor der «Bestseller»-Wand gleich beim Eingang. «Für viele Kunden ist diese Wand wichtig», sagt Alfredo Schilirò, Mediensprecher von Orell Füssli (OF). «Bestseller dienen ihnen als Orientierungshilfen im riesigen Angebot.» Tatsächlich liegen die neuen Bücher von Starautoren wie Elif Shafak, Jonathan Franzen oder Sally Rooney gleich stapelweise auf.
Die Listen sind ein Abbild des Verkaufs
All diese Titel rangieren auf den Bestseller-Listen des SBVV, des Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verbandes, die wöchent-lich erscheinen und in Zeitschrif-ten zu finden sind (siehe Seite 34). Offenbar werden sie fleissig gelesen. «Wenn die Listen mal nicht rechtzeitig publiziert werden, fragen alle bei uns nach: Buchhandlungen, Verlage, Leser», sagt SBVV-Geschäftsführerin Tanja Messerli. OF-Sprecher Schilirò bestätigt: «Unsere Kunden fragen oft gezielt nach Bestsellern. Diese Titel sind für uns deshalb ein Muss.»
Anders klingt es aus der Altstadt Buchhandlung Bülach. «Kaum jemand fragt bei uns nach einem Bestseller», sagt Andrea Frei. Deshalb verzichten die drei Frauen der unabhängigen Buchhandlung im Zürcher Unterland auf eine besonders augenfällige Präsentation der «gerankten» Bücher. «Aufkleber auf den Büchern können aber bei unentschlossenen Kunden durchaus Impulse geben», sagt Frei.
Diese Kleber mit Hinweis auf die SBVV-Liste oder auf die «Spiegel-Bestenliste» des gleichnamigen deutschen Magazins bringen die Verlage selbst an. «Die Bestsellerlisten sind ein Abbild des Verkaufs und deshalb ein wichtiges Signal», sagt Ruth Geiger vom Diogenes-Verlag. Ab welcher Verkaufszahl ein Buch zum Bestseller tauge, unterscheide sich von Buch zu Buch stark. Martin Suters Roman «Elefant» etwa hat sich laut Geiger seit Erscheinen 2017 im deutschsprachigen Markt gut 380 000 Mal verkauft, inklusive Taschen-, Hörbuch und eBook-Ausgaben.
Anekdote über einen fingierten Bestseller
Beschränkt man sich auf den Schweizer Markt, ist Gian Maria Calonders Krimi «Engadiner Ab-gründe» (2018) ein gutes Beispiel: 30 000 Mal ging er bisher schweizweit über den Ladentisch und stand ein Jahr lang auf der Bestsellerliste, wie Meike Stegkemper vom Kampa-Verlag sagt.
Wie aber schaffen Bücher überhaupt den Sprung in die Bestsellerlisten? Milena Moser, selbst Bestsellerautorin und gelernte Buchhändlerin, erzählt dazu eine Anekdote aus ihrer Lehrlingszeit: «Einer unserer Lehrer demontierte den Mythos Bestseller, indem er einen Roman mit dem Titel ‹Liebe im Iglu› auf die Bestsellerliste setzte. Die Verkäufe waren fingiert, das nicht existierende Buch hielt sich wochenlang auf Platz 3.»
Eine solche Manipulation schliesst OF-Sprecher Schilirò heutzutage aus: «Unsere verkauften Titel werden automatisch erfasst», betont er. Dies geschehe via Kassen- und Warenwirtschafts-System, erklärt Tanja Messerli vom SBVV. Die Erhebung und Verarbeitung besorge die deutsche Firma GfK Entertainment, die auch Musik- und Film-Charts erstellt. «Erfasst werden die Verkäufe von 90 Prozent der stationären Buchhandlungen, was rund 610 Läden entspricht», sagt Messerli. Hinzu kämen Kioske, Warenhäuser und Online-Shops. Zur Meldung verpflichtet ist niemand, aus der Altstadt Buchhandlung Bülach etwa werden keine Zahlen geliefert.
Bleibt die Frage, inwiefern sich Bestseller planen lassen, etwa über eine bewusst hoch angesetzte Auflage. Calonders erfolgreicher Erstling «Engadiner Abgründe» startete mit einer Auflage von 3000 Exemplaren. Der fünfte Fall der Krimireihe hatte bereits eine Startauflage von 11 000 Büchern.
Auch Ruth Geiger von Diogenes sagt, dass die angesetzten Erstauflagen eines Titels auf der bisherigen «Performance» eines Autors basieren. «Wenn Martin Suter ein neues Manuskript liefert, das qualitativ seinen bisherigen Werken entspricht, erscheint dies logischerweise in höherer Startauflage als das Debüt einer Lyrikerin.» Und sorge damit für die Quersubventionierung des Lyrikbands. Auf-lagewirksam seien auch Rah-menbedingungen wie runde Geburtstage oder Verfilmungen.
Wie schreibt man einen Bestseller?
Martin Suter sitzt aktuell tatsächlich an einem neuen Manuskript und schottet sich ab. Die Frage nach der Zauberformel des Buchmarkts geht deshalb an Charles Lewinsky: Wie schreibt man einen Bestseller, Herr Lewinsky? Seine Antwort kommt prompt und klar: «Keine Ahnung!» Der Schriftsteller, der mit seinem Roman «Melnitz» 2006 erstmals auf der Bestsellerliste landete, war damals sehr überrascht über seinen Erfolg: «Ich hatte mit 20 000 verkauften Exemplaren gerechnet. Am Schluss waren es international über eine halbe Million Bücher.»
Auch Milena Moser kennt das Geheimnis des Erfolgs nicht: «Beim Schreiben denke ich nicht an die Leser. Ich denke überhaupt nicht viel, sondern lasse mich von den Figuren führen.»
«Fröhliche Romane» als Erfolgsrezept
Das Rezept gefunden zu haben scheint Blanca Imboden. Die selbstdeklarierte Heimatdichterin aus Schwyz, die gerade ihr 20. Buch seit 2013 veröffentlicht hat, verriet im «Tages Anzeiger»: «Ich mache Gebrauchsliteratur. Ich habe eine einfache Sprache und brüte keinen halben Tag über einer Satzstellung.» Antworten liefert auch Raffaella Romagnolo. Für ihr Buch hat die italienische Autorin bei Charlotte Brontë, Gabriel García Márquez oder Stephen King nach deren Erfolgsrezepten recherchiert.
Auf der «Bestseller»-Wand im Orell Füssli Zürich ist aktuell keiner dieser drei Namen zu entdecken. Obwohl Neuauflagen zuweilen durchaus den Sprung in die Listen schaffen. Prominent platziert findet sich aber «Rigi – ein fröhlicher Roman über traurige Menschen». Autorin ist Blanca Imboden.
Buch
Raffaella Romagnolo
Wie man einen Bestseller schreibt
Aus dem Italienischen von Maja Pflug
96 Seiten
(Diogenes 2021)