Der Protagonist von Semi Eschmamps Zweitling ist am liebsten in seiner Wohnung, allenfalls mal im Treppenhaus. Wenn es sich nicht verhindern lässt, auch in der Waschküche. Mit diesem beschränkten Radius erschöpfen sich die Parallelen zum Stillstand in Corona-Zeiten aber auch schon. Was es im Buch zu entdecken gibt, dürfte den wenigsten in Quarantäne widerfahren sein. Da rufen Wecker aus den Ferien an («Wer will schon in ein Land fahren, in dem gerade sein eigener Wecker seine Freizeit verbringt»), oder die Regierung verkündet: «Es kann aber vorkommen, dass es während des einen oder gar an zwei Tagen kein Wetter geben wird.»
Eine neunmalkluge Leiche doziert übers Leben
An anderer Stelle droht die Regierung mit der Einführung eines 100-Stunden-Tages: «Der Hauptvorteil wäre: Man hätte viel mehr Zeit.» Man bekommt aber auch die seltsamen Worte zu lesen, die einem Boris Blaschko zugeschrieben werden: «Meine Geburt habe ich verpasst. Ich war zu jenem Zeitpunkt in Griechenland im Urlaub, alleine. Das war in den 70er-Jahren.» Blaschko ist angeblich ein russischer Künstler und wohnt direkt neben dem Protagonisten. Er schreibt Gedichte: «nichts» ist der gesamte Inhalt eines seiner Werke. Boris Blaschko verdanken wir auch die hinreissende Beschreibung einer neunmalklugen Leiche: «Wer nicht stirbt, hat nie gelebt!», doziert die Leiche.
Das Buch des Zürcher Künstlers Samuel Eschmann, der unter dem Pseudonym Semi Eschmamp in Berlin lebt, wird begleitet von kritzeligen Blei-, Filz- und Farbstift-Zeichnungen. Eine davon stellt Edvard Munchs «Schrei» dar. Im Begleittext geht es um einen Messerangriff: «Aauuuuuaaaaaaaaaaaaaa!!!, das tat höllisch weh, als würde mir da ein Wiesel reinbeissen.» Das sind indes nicht die Schmerzensschreie des Opfers, sondern des Augenzeugen. Denn die Schmerzen des Niedergestochenen haben das Opfer verlassen und den zufällig anwesenden Beobachter befallen. Genauso, wie es auch vielen Betrachtern des «Schreis» gehen mag. Vom eigentlichen Opfer heisst es hingegen nur: «Unaufgeregt verliess es den Tatort.» Zu Text und Illustration gesellt sich ein 80-minütiger Internet-Film: Er stammt angeblich von Boris Blaschko, ist ein Frühwerk von Semi Eschmamp und dreht sich um den fiktiven Künstler Anatol Abraham. Hier geht der Künstler mit der Motorsäge auf Luftballons los und verzweifelt an roten Lichtsignalen. Er berichtet über seine Kunst und darüber, warum er immer wieder gerne «auf die Schnauze fällt». Begleitet wird der Film von superbem Electropop, der bestens zur Lektüre passt.
Das drohende Verstummen der Kunst
Wie ein roter Faden zieht sich ein ernstes Thema durch Film und Buch: das jederzeit drohende Verstummen der Kunst angesichts des ausbleibenden Anfangs. «Ich wollte ein Gedicht schreiben, das nicht die Welt beschreibt, sondern sich ihr widersetzt. Aber ich fühlte mich starr, in einem Stillstand gefangen. Ich bewegte mich nicht. War ich eine Leiche?», heisst es dazu etwa. Dass solch Existenzielles Platz hat in einem immer wieder vom Wiesel gebissenen Buch, macht den wunderbaren Reiz dieser Lektüre aus.
Film
www.borisblaschko.com
Buch
Semi Eschmamp
Mein Vorbar ist auch mein Nachbar
128 Seiten
(Der gesunde Menschenversand 2020)