Während der 37-jährige italienische Schriftsteller und Physiker Paolo Giordano wie alle seine Landsleute zu Hause sitzt, denkt er nach. Darüber, was das Corona-Virus mit den Menschen und mit der Welt macht. «In Zeiten der Ansteckung» ist das Buch betitelt, das in der Leere seiner Tage entstanden ist. Es erzählt nicht vom Alltag in Rom, wo Giordano mit seiner Frau lebt, sondern formuliert in klugen Beobachtungen eine Hoffnung: dass wir uns durch Corona der Grenzenlosigkeit unserer Welt ebenso bewusst werden wie der Tatsache, dass diese Pandemie eng mit unserer Lebensweise verwoben ist. «Wir können uns bemühen, der Pandemie einen Sinn zu geben», schreibt er. Am Telefon begegnet uns ein tief nachdenklicher Mensch.
kulturtipp: Paolo Giordano, Sie leben in Rom, eine Lockerung der strengen italienischen Vorschriften steht nach Wochen der Quarantäne bevor. Was beschäftigt Sie?
Paolo Giordano: Ich verbringe meine Zeit mit Schreiben und Warten, meine Agenda ist leer. Noch nie habe ich so sehr auf Nachrichten gewartet wie in diesen Wochen. Ich schaffe es nicht, ein Buch zu lesen. Doch ich suche weniger nach Neuigkeiten als nach Ideen – Ideen für die Zukunft.
Warum denn?
Es ist nicht nur dieses Virus, das uns erschreckt, weil es eine Gefahr darstellt. Wir haben so etwas wie diese Pandemie noch nie erlebt. Doch darüber hinaus wirft Corona ein Licht auf uns und auf unsere Gesellschaft. Das sollten wir nicht vergessen, wenn das Leben dann wieder weitergeht.
Sie beschäftigen sich mit solchen Fragen ja in Ihrem Buch «In Zeiten der Ansteckung». Etwa wenn Sie eine Verbindung herstellen zwischen Pandemie und Klimaerwärmung. Sieht man das in Italien auch so?
Im Augenblick verdrängt die akute Notlage die Beschäftigung mit einer längerfristigen Perspektive. Jeder hält Ausschau nach einem bequemen Ausweg. Es ist aber nicht bequem, wenn man feststellt: Unsere Aggressivität gegenüber der Umwelt macht den Kontakt auch mit neuen Krankheitserregern immer wahrscheinlicher. Was mit Covid-19 geschieht, wird in Zukunft wieder geschehen. Die Ansteckung ist nur ein Symptom. Die Infektion liegt in der Ökologie.
Das heisst, Corona ist auch eine Art Test?
Ja, klar. Ein Test für unsere Fähigkeit – oder Unfähigkeit – in einem grösseren Massstab zusammenzuarbeiten. Was wir für den Kampf gegen den Klimawandel dringend brauchen.
Gibt es denn diese Kooperation? Oder stehen nicht alle Zeichen auf Abschottung?
Als sich zeigte, wie schwer Italien getroffen ist, reagierten die anderen Länder mit Abschottung. Die Idee der Grenze erweist sich als enorm stark – auch in unseren Köpfen. Ich habe zum Beispiel noch nie eine Statistik gesehen, in der die Zahl der Ansteckungen für ganz Europa erfasst worden wäre. Und als die Europäische Union über die Bekämpfung der Krise debattierte, ging es ausschliesslich um Geld, niemals aber um so etwas wie emotionale Verbundenheit in dem Sinne, dass man sagt: Wir werden das zusammen durchstehen. Diese Formen der Abschottung sind Ausfluss jenes Nationalismus und Populismus, der in vielen Ländern grassiert, und den wir unkontrolliert haben wachsen lassen. Aber es gibt auch Gegenbeispiele.
Was meinen Sie?
Ich spreche von der Wissenschaft. Hier finden wir eine enge Zusammenarbeit über die Grenzen von Staaten und Kontinenten hinweg, die in eine gemeinsame Anstrengung mündet.
Andererseits geraten Wissenschafter oft auch in eine seltsame Rolle, weil ihre Erkenntnisse zur Grundlage der Politik werden. Sie müssen Sicherheit vermitteln, obschon vieles noch unsicher ist.
Das ist wahr. Wir laden zu viel auf den Schultern der Wissenschafter ab. Sie sollen Antworten liefern, aber die Stärke von Wissenschaft liegt im Zweifel. In den Fragen, die sie fortwährend aufwirft. Als Ratgeberin der Politik aber stösst sie an ihre Grenzen, wenn sie keine raschen und sicheren Antworten geben kann. Sie gerät sogar in Gefahr, zum Sündenbock zu werden. Ausserdem verfolgt jede Einzelwissenschaft ihre eigenen Fragestel-lungen. Die Erkenntnisse aller Wissenschaften zu einem Bild zusammenfügen, das wäre Aufgabe der Politik.
Nun stellt sich den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Corona-Pandemie eine andere Pandemie entgegen: jene der vielen Fake News. Ist dagegen ein Kraut gewachsen?
Es gibt nur eines: Die vielen Fake News müssen jeden Tag von Neuem entlarvt werden. Und auch wir müssen dabei mitwirken. Deshalb mein Rat: Betreibt neben «Social Distancing» auch «Social Media Distancing». Teilt nicht alles, was euch im Netz erreicht. Wobei diese Aufgabe dann besonders schwierig wird, wenn ein Wissenschafter selber zur Quelle wird. Wie der französische Nobelpreisträger und Virologe Luc Montagnier, der fälschlicherweise behauptet hat, das Corona-Virus stamme aus einem Labor und nicht vom Wildtiermarkt.
Warum finden solche Theorien denn ein so grosses Echo?
Sie bieten einfache Erklärungen für ein so komplexes Phänomen wie eine Pandemie. Und sie blenden aus, wie sehr wir selber mit unserer Egozentrik dazu beitragen.
Bezeichnen Sie die Corona-Epidemie deshalb als eine Einladung, über unsere Zivilisation nachzudenken?
Ja, genau. Und nachdenken müssen wir vor allem über das, was der Begriff Nachhaltigkeit in unserem Alltag bedeutet. Leicht fällt das nicht. Auch ich bin mit dem Gefühl des ewig andauernden Wachstums und der unendlichen Möglichkeiten aufgewachsen. Jetzt müssen wir Opfer bringen. Einige davon sollten wir auf Dauer beibehalten.
Wir haben über Politik, Wissenschaft und Wirtschaft gesprochen, nicht aber über Kultur. Warum?
Man kann die Kultur als den am stärksten vergessenen Teil unseres Lebens bezeichnen. Obwohl sie gerade hier in Italien nicht nur einen wesentlichen Teil der Ökonomie darstellt, sondern vor allem, weil sie in der Krise unsere wichtigste Ressource ist. Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle schaffen den Raum für jene Gedanken, die uns weiterbringen. Uns als Menschen. Und uns als Gesellschaft.
Buch
Paolo Giordano
In Zeiten der Ansteckung
77 Seiten
(Rowohlt Verlag 2020)
Hörbuch
Paolo Giordano
In Zeiten der Ansteckung
Lesung, 63 Minuten
Sprecher: Johannes Steck
(Lübbe Audio 2020)
Paolo Giordano
Paolo Giordano wurde 1982 in Turin geboren und lebt in Rom. Er hat Physik studiert und sich einen Namen als Journalist gemacht. Sein erster Roman «Die Einsamkeit der Primzahlen» war ein internationaler Bestseller. Zuletzt erschien von ihm der Roman «Den Himmel stürmen».