kulturtipp: Timo Reuter, ihn Ihrem Buch beschreiben Sie das Warten als Moment, in dem wir «die Fremdbestimmtheit unseres Lebens» zu spüren bekommen. Das traf wohl selten so präzise zu wie während der Corona-Krise.
Timo Reuter: Warten ist eine Art von Ohnmacht. Und gerade jetzt ist diese extrem verdichtet. Wir sind alle kollektiv zum Warten gezwungen und andere – vor allem Politikerinnen und Politiker – schreiben die Pläne für uns. Aber warten ist ja nicht gleich warten.
Sondern?
Warten wir freiwillig, oder sind wir dazu gezwungen? Warten wir auf etwas Schlimmes oder auf etwas Schönes? Es ist ein Unterschied, ob wir auf den Bus warten, der uns zu einer Party bringt, oder auf das Ende der Pandemie. Derzeit kommt natürlich noch eine weitere Unsicherheit hinzu: Hat das Warten überhaupt Erfolg? Geht die Pandemie vorüber? Wenn ja, wann?
Dabei tun wir uns eh schon schwer mit dem Warten. Weshalb eigentlich?
Das ist ein Ausdruck des Zeitgeistes. Das grosse Versprechen der Moderne ist ja die Selbstbestimmung, und die kollidiert mit dem Warten. Der heutige Individualismus und die Leistungsgesellschaft geben den Takt vor: Zeit ist Geld. Und wir wollen in unserer eigenen Zeit leben.
Hat auch die allgegenwärtige Beschleunigung unsere Ungeduld verstärkt?
Wir werden heute doppelt so alt wie vor 150 Jahren und arbeiten aber nur halb so viel. Eigentlich müssten wir also viel mehr Zeit haben – doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Wir pressen immer mehr in unseren Tag, und für vermeintlich unproduktives Warten bleibt keine Zeit mehr. Hinzu kommt die Digitalisierung, die einen paradoxen Effekt auf das Warten hat. Zum einen verspricht sie die sofortige Bedürfnisbefriedigung: Bestellungen werden am gleichen Tag ausgeliefert, und Apps sollen rechtzeitig die Verspätung eines Zugs anzeigen. Warten müssen wir aber trotzdem noch. Nur werden wir noch stärker darauf aufmerksam gemacht: Ladebalken, Sanduhren und drei blaue Punkte auf den Bildschirmen – das Warten wird digital ins Schaufenster gestellt, dabei sollte es ja eigentlich abgeschafft werden. Ich glaube, dass diese Kleinteiligkeit das Warten noch unbeliebter macht.
War Warten immer mit dem Konzept Zeit verbunden?
Ich habe im grimmschen Wörterbuch nachgeschaut: Warten bedeutete früher dienen, pflegen oder Ausschau halten – ganz schön positiv im Vergleich zu heute, oder? All das hatte noch keine Zeitkomponente; die kam erst mit der Verbreitung der Uhr.
Im Moment gibt es viele Anleitungen, wie wir unsere Zeit zu Hause nutzen können. Was denken Sie, entdecken wir das Potenzial des Wartens neu, oder geht es darum, auch in einer Krisen-Zeit möglichst produktiv zu sein?
Eine Sache vorweg: Die Frage, wer sich das Warten jetzt überhaupt schön gestalten kann, ist eine Frage von Privilegien. Natürlich warten wir alle – aber unter sehr unterschiedlichen Bedingungen. Wie wohne ich? Wird mein Lohn weiter bezahlt? Gehöre ich zur Risikogruppe? Lebe ich in der Schweiz oder in Brasilien? Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja, es zielt schon vieles auf eine andere Form der Produktivität ab. Zugleich sehe ich aber auch das Besondere der Situation: Grundsätzlich haben wir ja heute immer mehr Möglichkeiten, können deshalb aber auch mehr verpassen. Der Soziologe Hartmut Rosa nennt das «Verpassensangst». Weil jetzt aber alles stillsteht, ist diese ausser Kraft gesetzt. Und da liegt schon eine Chance, dass wir Momente des Nichtstuns anders erleben können.
Sie haben es angedeutet: Warten hat auch mit Macht zu tun.
Wer auf wen warten muss, war schon immer eine Frage von Privilegien. Wartezeiten sind in einer Gesellschaft nicht gleich verteilt. Frauen haben stets mehr gewartet – im ehemaligen Ostblock in den Schlangen vor den Geschäften und heute oft noch auf gleiche Bezahlung. Gerade das existenzielle Warten wird vor allem den Marginalisierten zugemutet: Vor der Ausländerbehörde, vor dem Arbeitsamt, vor den Tafeln. Geld hingegen wartet selten. In den USA und anderen Ländern mieten sich Menschen längst professionelle Schlangensteher.
Inwiefern wird sich die Corona-Krise auf unsere Einstellung zum Warten auswirken?
Es gibt drei Perspektiven. Die pessimistische: Wir verpassen jetzt so viel, dass danach unsere Ungeduld nur noch steigt. Die optimistische: Wir merken, dass das Warten auf den Bus eigentlich ein Luxusproblem ist. Und die dritte, fatalistische: Am Ende ist alles wieder wie zuvor, weil die Kräfte des Alltags und des bestehenden Systems einfach sehr stark sind.
Wovon gehen Sie aus?
Unsere Aufgabe wird es sein, uns danach gegenseitig daran zu erinnern, was wir gerade erlebt haben. Ich glaube, es gibt diese Chance, dass wir vielleicht das Wesentliche am Leben wieder stärker schätzen lernen. An der Bushaltestelle müssen wir die fünf Minuten warten, ob wir wollen oder nicht. Wir können uns dabei entweder ärgern. Oder wir können mit jemandem ein Gespräch anfangen, mit dem wir seit zwei Jahren jeweils dastehen. Und vielleicht schauen wir beim Warten einfach wieder mal in die Welt hinaus.
Buch
Timo Reuter
Warten – eine verlernte Kunst
240 Seiten
(Westend Verlag 2019)
Inspirierende Warte-Lektüre
«Das Nichtstun(-dürfen) im Warten ist nicht zu verwechseln mit dolce far niente», schreibt Kathy Zarnegin in ihrem neusten Werk «Exerzitien des Wartens». Die im Iran geborene Basler Dichterin versammelt in ihrem 80-seitigen Büchlein kurze und längere Ge-danken, Aphorismen, Beobachtungen und Essays zum Thema, die in den letzten Jahren entstanden sind. Das Warten auf die Inspiration und das Warten während Lesereisen haben sie als Schriftstellerin zum Buch animiert. Nun ist das Thema aktueller denn je. In der Zeit des Wartens lohnt sich die inspirierende Lektüre von Kathy Zarnegins «Exerzitien». (bc)
Radio
Interview mit Kathy Zarnegin zu ihrem neuen Buch
«Literaturfenster» auf Radio SRF 2 Kultur
www.srf.ch/sendungen ! literaturfensterschweiz ! Kathy Zarnegin
Buch
Kathy Zarnegin
Exerzitien des Wartens
80 Seiten
(Bucher 2020)
Timo Reuter
Timo Reuter, Jahrgang 1984, hat Philosophie, Mathematik und Pädagogik studiert. Er lebt in Frankfurt am Main und arbeitet als Journalist für verschiedene überregionale Tages- und Wochenzeitungen. 2016 veröffentlichte er ein Buch über das bedingungslose Grundeinkommen.