Haben Sie auch schon «Icon Poet» gespielt? Das Gesellschaftsspiel gehört zu den bekanntesten der letzten Jahre. Man würfelt, stellt die Sanduhr und muss innert dreier Minuten anhand von fünf Symbolen eine Kurzgeschichte schreiben. Dampfwalze, gebrochenes Herz, Spritze, Hammer und Nägel, Gewitterwolke – und los gehts!
Kunstbuch und Museumsstreifzug
Der Autor und «Magazin»-Kolumnist Max Küng hat auch ein wenig «Icon Poet» gespielt – nur in einer anderen Grössenordnung, nämlich anhand von Werken aus der Helvetia Kunstsammlung. Gut 2000 Arbeiten von über 400 Künstlerinnen und Künstlern umfassen die Bestände der Helvetia Versicherungen. Der Schwerpunkt liegt bei zeitgenössischer Schweizer Kunst. Daraus haben die Sammlungs-Verantwortlichen zusammen mit dem kunstinteressierten Autor 70 Werke ausgewählt – ein Querschnitt durch mehr als 70 Jahre Kunstgeschichte.
Das Resultat heisst «Vieles ist im Grunde ein Wunder» und ist eine Mischung aus Novelle, Kunstbuch und Museumsstreifzug – eine Neuinterpretation des klassischen Sammlungskatalogs. Inspiriert durch Gemälde, Fotografien und Installationen erzählt Küng die Geschichte eines Namenlosen, der in Basel aufbricht, um zu Fuss bis nach St. Gallen zu gehen. Zu Beginn holpert diese Erzählung ein wenig, entfaltet danach aber allmählich ihren Sog. Denn die Leser verfolgen hier einen melancholischen, einen grübelnden Gehenden, wie er in der Schweizer Literatur von Robert Walser bis Peter Stamm Tradition hat. Der Spaziergänger geht zunächst dem Rhein entlang. Dabei hangelt er sich assoziativ von Ortsnamen zu Erinnerungen aus Kindheit und Jugend, sinniert über geschichtliche Ereignisse, Regenwürmer und das Gehen.
Aus dem Industriegebiet in die Naturlandschaft
Überall, wo die Kunst die Erzählung lenkt, sind Künstlerinnen und Werktitel vermerkt. So sehen die Leser fortlaufend, wie Formen, Farben, Themen und Stimmungen Max Küng kreativ anstupsen. Wunderbar greifen da bisweilen Erzählung und Kunst ineinander. Helmuth Mahrers Ölbild «Das Glashaus» begleitet zum Beispiel die Erinnerung des Protagonisten an die einstige Basler Stadtgärtnerei: «Als man sie nicht mehr benötigte, kam die Subkultur, kamen die Besetzer, dann die Polizei und dann die Politiker und dann die Bagger und dann die Landschaftsarchitekten und dann die saubere Lösung, die nun übrig geblieben ist.» Mahrers melancholischer Blick in ein Gewächshaus trifft hier auf eine spitze Beobachtung zur Stadtentwicklung. Später beschreibt der Erzähler, wie er aus dem Industriegebiet in einen naturbelassenen Abschnitt des Rheins und aus einer Siedlung in den Wald gelangt. Die Übertritte spiegeln sich in zwei Gegenüberstellungen von Gemälden: Camille Graesers geometrische Formen und Adolf Dietrichs Vogeldarstellungen stehen für die zwei Landschaften (siehe Bilder links), Cécile Hummels «Neon III» und Julia Steiners «Nocturne IV» für künstliches und natürliches Licht.
«Weg und Ziel müssen zueinander passen»
Diese Verbindungen zwischen Text und Kunst sind mal mehr mal weniger offensichtlich. Doch gerade da, wo sich diese Assoziationen nicht sofort erschliessen, ist das Buch umso anregender. Zwischen Erzählung, Kunst, Küngs Verknüpfungen und den Gedanken der Leser entstehen immer wieder neue Momente der Kunstbetrachtung.
«Sich gewissen Dingen zu nähern, verlangt nach entsprechenden Herangehensweisen», überlegt Max Küngs Protagonist einmal. «Der Weg und das Ziel, sie müssen zueinander passen.» In diesem ganz eigenen Kunstbuch tun sie das auf jeden Fall.
Ausstellung
Gipfeltreffen – Werke aus der Helvetia Kunstsammlung
Bis Do, 30.7., jew. Do, 16.00–20.00
Helvetia Art Foyer Basel
Buch
Vieles ist im Grunde ein Wunder – Ein Spaziergang durch die Helvetia Kunstsammlung mit Max Küng
160 Seiten
(About Books 2020)