Immerzu gegen den Strich. «… nicht in Richtung Künstlerhaus, sondern in die Gegenrichtung wie auf dem Plan zu sehen – zur Hauptstrasse, dann links zum ‹Sternen›! Ich reserviere.»
In die entgegengesetzte Richtung! Nichts machen wir lieber, ganz der Maxime der österreichischen Schriftstellerlegende Thomas Bernhard (1931–1989) folgend, der diesen Schritt früh im Leben – auf Rat des Grossvaters – wagte und seinem Leben die richtige Wendung gab. So erreicht man den prächtigen Landgasthof «Sternen».
Gegen den Strich
Die «entgegengesetzte Richtung» bleibt ein Thema. Dann nämlich, wenn es die Boswiler noch und noch wagen, wider den Strich zu agieren, damit die Aufmerksamkeit aufs Haus gerichtet ist. Oft als Oasen bewundert, kommen die kleinen Kulturhäuser am Rand der Zentren nicht drum herum, unermüdlich ums Publikum zu kämpfen.
Aber: Wurde in Boswil wie 2011 Karlheinz Stockhausens (1928–2007) spektakuläres Helikopter-Streichquartett mit echten Helikoptern aufgeführt, schaute die ganze Schweiz aufs Künstlerhaus. Oder versammelten sich vor sechs Jahren 640 Mitwirkende zum «Kuhglockenensemble der Welt», erreichte man gar einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde. 2015 lockte das «Musik für die Bünz» die Journalisten nach Boswil: Alles, was in der Umgebung Musik machen konnte und wollte, stand an diesem Junitag am Flüsschen und machte die Idylle zum Konzertsaal. «Mit solchen Projekten grenzen wir uns von der Konkurrenz ab. Wir mobilisieren die Basis – Laien und Musikschulen», ist Schneider überzeugt.
«Zukunft für die Musik»
«Normales» und Konzerte, die jeder Veranstalter einkaufen kann, gibts genug landauf, landab. Idyllische Rückzugsorte wie das Künstlerhaus nur wenige. Der Charme Boswils zeigt sich selbst an einem rauen Wintertag. Kein Wunder, ist das Künstlerhaus ein unter Künstlern überaus beliebter Ort der Begegnung, des Kulturaustauschs, ja der künstlerischen Auseinandersetzung.
1953 gründeten der Lichtgestalter Willy Hans Rösch und der Glaskünstler Albert Rajsek eine Stiftung mit dem Ziel,
die Alte Kirche und das alte Pfarrhaus Boswil vor dem Abbruch zu retten, um hier ein Heim für betagte und mittellose Künstler zu schaffen. Renommierte Kunstschaffende wie der Cellist Pablo Casals oder die Pianistin Clara Haskil traten in Benefizveranstaltungen auf. Alsbald kamen Gäste, Maler, Musiker und Dichter. Seit 2006 ist man klar «Ort der Musik», ein Leuchtturm in der Aargauer Kulturlandschaft. Mit Zukunft.
Eine Mappe liegt auf dem Tisch; sie zeugt vom Tatendrang der 13-köpfigen Künstlerhaus-Mannschaft: «Eine Zukunft für die Musik, die Jugend und den denkmalgeschützten historischen Boswiler Pfarrbezirk», heisst es auf der Titelseite. Kernthema des 8,9-Millionen-Projekts ist das neue Foyer, als Anbau an die Kirche, und der Umbau des danebengelegenen Sigristenhauses. Zur Eröffnung des Boswiler Sommers 2016 soll das Foyer fertig sein.
Grosse Namen
2016 wird Schneider 10 Jahre in Boswil gewesen sein. Seine Arbeit scheint ihm so gut wie kaum je zuvor zu gefallen. Er muss heute nicht jeden einzelnen Zuschauer als Gradmesser hochhalten. Fragt der Kanton mal, wie es denn um Gäste aus dem Ausland stehe, kann er kontern: «Wir können froh sein, dass wir 35 Prozent ausserkantonale Gäste haben. Spielt eine Martha Argerich bei uns, kommen auch Süddeutsche. Aber sonst hören die eine Sabine Meyer in Freiburg.» Schneider scheut sich nicht, unspektakuläre Wahrheiten auszusprechen.
Spannende Auswahl
Wer den Jahresplan überblickt, staunt, was neben den altehrwürdigen acht «Meisterkonzerten» alles los ist: Meisterkurse, Boswil Spezial, Jugendkonzerte, das Ensemble Boswil …Trotz dieser Vielfalt und allem Optimismus von Schneider bleibt manchmal die nüchterne Resignation. Da spielte man im Mai 2014 das gesamte Klavierwerk zu vier Händen von Debussy/Ravel – Schneider persönlich schrieb 100 Klavierlehrer im Kanton an: «Zwei kamen, keiner mit seinen Schülern.» Insgesamt waren 450 Leute in Boswil. Immerhin.
Zum Komponieren kommt er in letzter Zeit zu wenig. Aber wer weiss, vielleicht wird er Zeit finden, um in die Gegenrichtung zu gehen – so weit, dass ein angedachtes Streichquartett bald in Boswil zu hören sein wird.
Aufführungen im Künstlerhaus, Alte Kirche Boswil AG
Flöte Heute – Werkstatt Tag
Sa, 7.11., 09.30
Emotionen. Opernarien und Lieder mit Yuka Matsuoka Limacher
Sa, 14.11., 17.00
Boswiler Meisterkonzert Sharon Kam & Chaarts
So, 15.11., 17.00