Buchliebhaberinnen und Hutträger sind eine aussterbende Spezies. Das müssen die beiden älteren Protagonisten in Bodo Kirchhoffs neuem Werk «Widerfahrnis» feststellen. Der Verleger und Buchhändler Julius Reither und die Hutverkäuferin Leonie Palm mussten ihre Geschäfte wegen des sinkenden Umsatzes einstellen. Dafür widerfährt ihnen ein unverhofftes Liebesglück. Eines Abends klingelt Leonie an der Türe des in Bayern lebenden Ex-Verlegers, um ihn in ihren Lesekreis einzuladen. Spontan machen sich die beiden, die sich vorher noch nie gesehen haben, auf eine Reise Richtung Sonnenaufgang – und landen im Sehnsuchtsland Italien.
Aus Fremden werden Vertraute
Auf der langen Autofahrt in Leonies altem Cabrio werden aus den Fremden zwei Vertraute. «Die Palm», wie der Buchhändler seine Gefährtin nennt, erzählt von ihren schmerzhaften Erfahrungen, vom Suizid ihrer Tochter. Er selbst erinnert sich an seine einstige Liebe, an das ungeborene Kind, das er damals ablehnte. In regen Gesprächen oder schweigendem Einverständnis fahren sie Zigaretten rauchend durch die Nacht, eine knisternde Atmosphäre zwischen ihnen.
Doch in die Idylle bricht die raue Gegenwart ein: Im sizilianischen Catania begegnet ihnen ein bettelndes Teenager-Mädchen im zerrissenen Kleid, das sie fortan nicht mehr verlässt. Das Elend der Flüchtlinge ist auch auf einer romantischen Piazza im touristischen Zentrum allgegenwärtig. Leonie mag die Augen nicht davor verschliessen und will das Kind bei sich aufnehmen. Die gut gemeinte Tat entpuppt sich als egoistischer Akt, zumal das Mädchen, das – in seiner eigenen Sprache gefangen – stumm bleibt, seine Wünsche nicht äussern kann. Stillschweigend wird angenommen, dass sich das Leben eines Flüchtlings nur mit erzwungener Hilfeleistung verbessert. Reither macht sich zum Verbündeten, indem er kaum Einspruch erhebt. Die Geschichte läuft aus dem Ruder, es kommt zum Eklat.
Bodo Kirchhoffs Novelle, die 2016 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, überzeugt vor allem im ersten Teil. Das scheue Herantasten zweier Fremder, die Bekenntnisse im geschützten Dunkel des Autos, die flirrende Stimmung im Süden, das entfachte Liebesfeuer beschreibt Kirchhoff lebensklug und stilistisch ausgefeilt. Selbst das ständige Hinterfragen der Sprache stört den Erzählfluss nicht. Denn Reither reflektiert seine Geschichte im Rückblick wie einen Roman: Im Suchen nach den richtigen Worten fernab von Floskeln versucht er, diesem «Widerfahrnis» gerecht zu werden.
Verlust der Leichtigkeit einer spontanen Liebe
Der Einbruch der Wirklichkeit im zweiten Teil, die «unerhörte Begebenheit», welche die Novelle kennzeichnet, lässt die Leichtigkeit der spontanen Liebe verfliegen. Das persönliche Glück verknüpft sich mit gesellschaftlichen Brennpunkten und erhält nochmals eine neue Dimension. In den letzten Kapiteln mehren sich aber die Zufälle, und die Flüchtlingsthematik wirkt in dieser Anhäufung konstruiert. Alles in allem zielt die dichte, melancholische Novelle des 68-jährigen Autors aber direkt ins Herz.
Buch
Bodo Kirchhoff
«Widerfahrnis»
224 Seiten
(Frankfurter Verlagsanstalt 2016).