Der Roman «Blutbuch» von Kim de l’Horizon bringt nach dem Literaturbetrieb nun auch die Bühnenwelt zum Beben. Neben Hannover, Wien, Essen und Magdeburg steht die eigenwillig strukturierte Autofiktion auch in Bern und Zürich auf dem Spielplan. Die Situation ist ein schönes Beispiel für die Fülle an Möglichkeiten in der Regiearbeit. In der Romanvorlage steckt vieles: eine Rückblende zu einem Kind, das die Traumata der Mutter und Grossmutter mitträgt, sie aber noch nicht versteht und sich in die Magie eines Baumes flüchtet.
Ein kritischer Generationendialog. Eine weibliche Geschichtsschreibung. Aber auch die Suche nach einem Geschlecht und einer Sprache, die das ausdrücken kann, was in einem drin ist. Sebastian Schug, der «Blutbuch» für die Bühnen Bern inszeniert, setzt auf einen Ein-Frau-Monolog. Schauspielerin Lucia Kotikova verkörpert die Erzählfigur und nimmt das Publikum mit auf deren Reise. «Die Art und Weise, wie dieser Mensch seine Suche beschreibt, hat viel Potenzial für Identifikation», sagt Schug.
Die Bühne im überschaubaren Vidmar-2-Saal bietet ein gutes Setting für die Nähe, die der Regisseur herstellen will. «Blutbuch» baut aber nicht nur Brücken, sondern liefert auch Reibungsfläche. Da ist zum Beispiel die oft kritisierte Wald-Rave-Szene. Die Erzählperson hat ein Sexdate. Und während die Sätze immer länger werden und schliesslich vor lauter Lust ihre Satzzeichen verlieren, so wie sich auch die Ich-Figur in der Begegnung auflöst, beschimpft sie ihren Partner als «Drecksaraber» und zieht daraus einen Lustgewinn.
Schug will diese Passage so roh inszenieren, wie Kim de l’Horizon sie geschrieben hat: «Ich finde es interessant, dass das ‹Ich› keine polierte Oberfläche hat, sondern Untiefen. Das ist sehr menschlich.» Für Gesinnungstheater, das niemanden vor den Kopf stösst, sei er nicht zu haben. «Manchmal sitze ich in meinen Premieren und denke mir: Das geht doch nicht! Wieso hat keiner was gesagt?» Das seien aufregende Momente, weil die einsetzende Scham viel über den Stoff erzähle.
«Der Hype machte aus dem Buch fast einen Mythos»
«Interessant ist, dass alle eine Meinung zu ‹Blutbuch› und zu Kim de l’Horizon haben. Auch die, die das Buch nicht gelesen haben», meint Schug. Der Hype habe aus dem Buch fast schon einen Mythos gemacht. Dieses grosse Drumherum mache es für ihn zu einem guten Bühnenstoff, der sich durchaus von Kim de l’Horizon entkoppeln lässt. «Kim hat sich selbst ein Stück weit in dem Buch verwertet.
Das heisst aber nicht, dass die Figur, die aus dem Buch erwächst, wirklich mit Kim zusammenhängt.» Deshalb habe Schug auch nicht das Bedürfnis gehabt, Kim de l’Horizon zu kontaktieren. Im Schauspielhaus Zürich ist die Ausgangslage eine andere: Während in Bern das Theaterhaus den Regisseur beauftragte, hat Kim de l’Horizon die Regisseurin Leonie Böhm angefragt, «Blutbuch» in Zürich zu inszenieren. Böhm sagt: «Ich wollte Kim unbedingt im Prozess dabeihaben.»
Weil de l’Horizon im November krank wurde, verschob Böhm die Inszenierung auf Februar und gab damit die deutschsprachige Uraufführung an das Schauspiel Hannover ab. Neben Kim de l’Horizon stehen Vincent Basse, Gro Swantje Kohlhof, Sasha Melroch sowie Lukas Vögler auf der Bühne.
Begegnung im Wald als Schlüsselszene
«Eine konkrete Rollenverteilung haben wir in Zürich nicht», sagt Böhm. «Wir widmen uns eher der Geste des Buchs.» Mit Geste meint Böhm die Einforderung einer neuen, gewaltfreien Form des Zusammenlebens, in der sich jeder so zeigt, wie er ist.
Auch Leonie Böhm spricht die Sexszene beim Wald-Rave an. «In dieser unmittelbaren fantastischen Begegnung spielen sich auch alle Rollenmuster, alle Machtstrukturen und Möglichkeiten ab.» Böhm will auf der Pfauenbühne einen Raum schaffen, in dem eine Begegnung angstfrei möglich ist. So sollen das Ich und das Du verschwimmen, verschmelzen und sich verändern können. «Diese Transformation, die im Buch angelegt ist, finde ich politisch aufregend.»
Den ständig scheiternden Schreibprozess zeigen
In Zürich lautet der Stücktitel «Blutstück». Böhm sagt, die Unterscheidung sei ihr wichtig. «Im Buch kommt ja nur die Erzählperspektive vor. Auf der Bühne haben wir Raum für Dialog. Die Mutter und die Grossmutter bekommen bei mir die Chance, auf Kims Ansprache zu reagieren.» Das «Blut» habe sie aber behalten wollen, weil es die Fokussierung auf das Innere, das «Herzblut», zeige.
In Bern bleibt der Titel «Blutbuch». Schug findet das passend, weil Lucia Kotikova auch den suchenden und ständig scheiternden Schreibprozess zum Thema macht. «Sie versucht, eine Geschichte zu erzählen, in die ständig dazwischengefunkt wird – vom Leben und von der eigenen Libido.» Zwei der grössten Schweizer Theaterhäuser inszenieren also denselben Stoff fast zeitgleich zum ersten Mal. Kommen da keine Konkurrenzgefühle auf? Leonie Böhm verneint.
«Unter den Institutionen gibt es das wahrscheinlich schon. Aber ich fühle nichts davon.» Sebastian Schug stimmt ihr zu. «Wenn wir etwas Ähnliches machen würden, gäbe es wahrscheinlich so etwas wie einen lustvollen Wettbewerb, aber unsere Ansätze sind ja grundverschieden.» Und nach dem Publikumsinteresse an «Blutbuch» und den Ende Jahr schon ausverkauften Vorstellungen zu schliessen, wird keines der Theater Mühe haben, seinen Saal zu füllen.
Blutbuch
Premiere: Mi, 17.1., 19.30
Vidmar 2 Bern
Blutstück
Premiere: Do, 22.2.
Schauspielhaus Zürich
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