Die Geschichte beginnt mit dem Afroamerikaner Lamont Williams, 30 Jahre alt. Eben erst aus der Haft entlassen wegen eines Raubüberfalls, den er als Mitläufer mit sechs Jahren Freiheitsentzug bezahlte, kehrt er zu seiner Grossmutter in der Bronx zurück. Lamont kann als erster Kandidat eines neuen Sozialhilfeprogramms in einer Krebsklinik im Putzdienst arbeiten und hat ein klares Ziel: Er will seine Probezeit gut überstehen, um dort als Festangestellter weiterarbeiten zu dürfen. So kann er vielleicht einen Collegeabschluss nachholen und endlich seine Tochter wiederfinden. Er hat den Kontakt zu ihr und der Mutter während der Haft verloren.
Der Zuhörer
An seinem neuen Arbeitsort lernt Lamont den Juden Henryk Mandelbrot kennen. Der schwerkranke Mann findet im Ex-Sträfling einen aufmerksamen Zuhörer und erzählt ihm seine Lebensgeschichte: Von seiner Zeit im
Warschauer Ghetto, von seiner Flucht und der Gefangennahme und schliesslich von seinem Einsatz im Sonderkommando – in Auschwitz. Nichts lässt er aus, denn Lamont ist ein guter, wissbegieriger Zuhörer. Er merkt sich alles, was der Alte ihm erzählt. Und er scheut auch keine Fragen: «Oschwitz … Auschwitz … was ist es genau?» – «Das hier», sagte Mr Mandelbrot, und klopfte mit zwei Fingern auf die eintätowierte Nummer an seinem linken Unterarm, «das, was Sie so angestarrt haben, das ist Auschwitz.»
Der Forscher
Noch ahnt Lamont nicht, wie wichtig sein Wissen über das Erzählte im Puzzlespiel eines anderen – die Nachforschungen des Universitätsprofessors Adam Zignelik – sein wird. Lamont erhält nämlich als letzter Mann wichtige Informationen eines Zeitzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg. Und der Ex-Sträfling hilft so wesentlich mit, offene Fragen in einer lückenhaften Geschichte zu klären.
Adam Zignelik, Historiker und Professor an der Universität von Columbia, ist Sohn eines New Yorker Juden, der sich als Jurist in den 50er-Jahren gegen die Rassendiskriminierung und für Martin Luther King eingesetzt hatte. So liegt es nahe, dass sein Sohn Jahrzehnte später Nachforschungen betreibt, ob dunkelhäutige US-Soldaten an der Befreiung von deutschen Konzentrationslagern beteiligt gewesen waren. Dabei stösst er zufällig auf Tonbänder eines gewissen Dr. Henry Border. Es sind Interviews mit Überlebenden des Holocaust, die der US-Psychiater unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland aufgezeichnet hat und die im Laufe der Jahre in Vergessenheit gerieten.
Die Verknüpfungen
Drei Hauptstränge sind im neuen Werk «Tonspuren» des australischen Schriftstellers Elliot Perlman auszumachen. Und auf den 700 Seiten werden noch etliche andere Fäden gezogen und gegenseitig verknüpft: Von New York nach Warschau in die Zeit des Zweiten Weltkrieges, von den Kon-zentrationslagern zurück zur US-Bürgerrechtsbewegung den 50er- und 60er-Jahre, von Melbourne nach Washington führt die Reise. Nebst den drei Protagonisten Lamont, Mr Mandelbrot und Adam Zignelik bevölkern unzählige Nebendarsteller die Bühne.
Es ist eine anspruchsvolle Erzähltechnik, die der 1964 in Melbourne geborene Schriftsteller Elliot Perlman in seinem Roman anwendet – komplex und raffiniert. Sie fordert den Leser vor allem im ersten Teil des Buches heraus. Dann etwa, wenn historische Begebenheiten, wie die Bürgerrechtsbewegung in den USA mit der Judenverfolgung in Europa, mit Ort und Zeit, Traum und Wirklichkeit in schnellem Wechsel erfolgen. Perlman hat dieselbe Technik bereits in seinem Vorgängerroman «Sieben Seiten der Wahrheit» angewendet.
Das Werk von Elliot Perlman
ist allemal eindrückliche Geschichtsschreibung. Ergreifend und erschütternd bleiben die Erlebnisse des Holocaust Überlebenden Henryk Mandelbrot. Seine Schilderungen über die Erfahrungen im Sonderkommando in Birkenau-Auschwitz grenzen ans Unerträgliche und machen deutlich, mit welcher Unerbittlichkeit die Inhaftierten ums Überleben kämpfen mussten – und trotzdem als Verlierer zurückblieben. «Woher wussten Sie, dass Sie überleben würden?», fragt Lamont Henryk Mandelbrot bewundernd. «Ich wusste gar nichts. Ich war kein Held. Es gab viele Helden. Ich gehörte nicht dazu. Die Helden sind gestorben», antwortet dieser bitter.
Intensive Recherche
«Tonspuren» beruht auf jahrelanger intensiver Forschung des Autors, auf Gesprächen mit letzten Überlebenden und zahlreichen Besuchen in Auschwitz. Die Bandaufnahmen des David P. Boder (1886–1961), der im Roman als fiktionaler Dr. Border auftritt, existieren tatsächlich. Der Psychiater studierte an den Universitäten Leipzig und Sankt Petersburg. 1921 wanderte er nach Mexiko aus, lehrte dort vier Jahre lang als Professor für deutsche Literatur und Psychologie. 1925 liess er sich in Chicago nieder, später in Illinois und Kalifornien. Kurz nach Kriegsende 1946 interviewte er in Europa Überlebende der Konzentrationslager. 120 transkribierte Interviews und rund 200 Stunden Tonaufzeichnungen liegen dem Illinois Institute of Technology vor. Die eindrücklichen Hördokumente sind heute für die Öffentlichkeit zugänglich unter: http://voices.iit.edu/.
Der sture Hund
Perlman macht in seinem imposanten Werk immer wieder deutlich, was er schon auf der ersten Seite seines Werkes angekündigt hat: «Die Erinnerung ist ein sturer Hund. Sie lässt sich nicht rufen oder wegschicken, aber ohne dich kann sie nicht überleben. Sie kann dich stärken oder von dir zehren. Sie kommt, wenn sie hungrig ist, nicht wenn du es bist.»
Elliot Perlman
«Tonspuren»
704 Seiten
Aus dem Englischen von Grete Osterwald
(DVA 2013).
Elliot Perlman
Elliot Perlman wurde 1964 in Melbourne geboren und stammt aus einer polnisch-jüdischen Familie, die in den 20er-Jahren nach Australien ausgewandert ist. Der Autor praktizierte einige Jahre als Anwalt. 2010 erschien sein Erstling «Drei Dollar». Danach zog er nach New York, wo er sich ausschliesslich dem Schreiben widmete. Sein zweiter Roman «Sieben Seiten der Wahrheit» bescherte ihm 2008 den grossen Durchbruch. «Tonspuren» ist sein dritter Roman. Der Autor lebt heute wieder in Melbourne.