Der Titel kommt aus dem Surrealismus. Mit der Aufforderung «Prière de toucher» war 1947 eine Ausstellung der Surrealisten versehen: Sinnbildlich dafür steht diese weibliche Brust aus Schaumstoff. Der Avantgardist Marcel Duchamp (1887–1968) ironisierte damit den schon damals allgegenwärtigen Begriff «Bitte nicht berühren». Dieses Objekt ist nun mit zehn andern Werken des Künstlers in der neuen Gruppenausstellung «Prière de toucher – Der Tastsinn der Kunst» im Museum Tinguely zu sehen – von barocken Allegorien über die Avantgarde bis zur Körperlichkeit in den 1960er- und 1970er-Jahren.
Tast-Parcours
Nach der Tinguely-Schau über das Riechen im letzten Jahr, nun also das Tasten: Die Ausstellung ist als Parcours angelegt, der den Besucher zu allen möglichen sinnlichen Erfahrungen einlädt. Einer der Höhepunkte: Gipsabgüsse antiker Skulpturen lassen sich unter Anleitung mit verbundenen Augen ertasten und so erfahrbar machen. In der Schau sind Werke verschiedener Religionen und Weltgegenden versammelt, die von geistigen und körperlichen Berührungen zeugen – mit der Haut als Vermittlungsorgan. Darunter sind Objekte von Künstlern wie dem US-Amerikaner Bruce Nauman, der Baslerin Miriam Cahn oder dem Wiener Aktionisten Otto Muehl. Natürlich ist Jean Tinguely selbst auch vertreten mit einer Hommage an seine Luftballons, die er in der Ausstellung «Dylaby», «dynamisches Labyrinth», 1962 in Amsterdam realisierte.
Der italienische Künstler Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944) dokumentierte in seinem Relief «Sudan-Paris» 1920 die Sinnlichkeit des Berührens. Diese Collage mag auf den ersten Blick seltsam wirken, aber die unterschiedlichen Materialien haben es in sich: Marinetti arbeitete unter anderem mit einem Schwamm, Schleifpapier, Wolle, Seide, Samt und Federn – allesamt Materialien, die geradezu zum Berühren einladen. Da ist es nachvollziehbar, dass Marinetti ein «Futuristisches Manifest des Taktilismus» propagierte; «Sudan-Paris» diente ihm als Illustration dafür.
Marinetti war übrigens ein schillernder Zeitgenosse: Sein Futurismus ging im italienischen Faschismus auf. Er überwarf sich zwar zeitweise mit dem Diktator Benito Mussolini, kehrte aber immer wieder in dessen Bewegung zurück, der er während des Krieges treu beistand. Was einmal mehr belegt, dass künstlerische Intuition und politischer Schwachsinn im Einzelfall zusammengehen.
Kunst mit Bienenpelz
Der renommierte holländische Künstler Jeroen Eisinga zeigt in seinem Werk «Springtime» Kunst als eine Form der Selbstkasteiung: Die körperliche Erfahrung, sich nackt einem Bienenschwarm auszusetzen – und das Purgatorium zu filmen. So reduzierte das Boulevardblatt «Düsseldorf Express» Eisingas Performance auf die naheliegende Schlagzeile: «Ist das Kunst oder tut das weh?» Wahrscheinlich beides. Eisinga wird jedenfalls mit den Worten zitiert: «Der Tod war nahe, aber ich habe mich nie lebendiger gefühlt als unter dem Bienenpelz.» Nach dieser Vorstellung soll Eisinga vorsichtshalber ein Krankenhaus aufgesucht haben.
Wiederum auf einer andern sinnlichen Ebene bewegt sich das Werk «Der Tastsinn» des französischen Kupferstechers Abraham Bosse (1604–1679). Der Betrachter spürt noch 300 Jahre später die knisternde Erotik der Szene. Superb ist die Gleichgültigkeit der Bediensteten rechts neben dem Liebespaar angesichts der Intimitäten ihrer Herrschaft. Ist sie sich solche Espakaden längst gewohnt? Ist sie mit einer unbestechlichen Diskretion gesegnet? Oder vielleicht nur gelangweilt? Die Frau scheint jedenfalls ungerührt das Himmelsbett bereit zu machen für weitere Lustbarkeiten im weiten Reich der Berührungen.
Erotische Motive
Das Werk «Prière de toucher» war das erste einer Reihe erotischer Motive von Marcel Duchamp. Als Vorbild für die Brust soll ihm das Original seiner damaligen Gefährtin Mary Reynolds gedient haben. Der in New York lebende italienische Maler Enrico Donati erinnerte sich Jahre später an die Entstehung des Kunstobjekts. Er kaufte angeblich in einem Lagerhaus in Brooklyn 999 Schaumstoffbrüste, die man damals «Falsies» nannte. Donati brachte sie nach Paris, wo er und Duchamp jedes einzelne Objekt nach ihrem Gusto verschönerten. Donati erinnerte sich, gesagt zu haben, dass es ihm nie langweilig werde, Brüste zu verschönern. Duchamp soll ihm beigepflichtet haben: «Vielleicht ist genau das die Idee des Ganzen.» Die Geschichte ist schön, auch wenn sie sich möglicherweise nicht ganz so witzig zugetragen hat.
Überhaupt soll man die Sache laut dem Ausstellungstext zu «Prière de toucher» nicht allzu eng sehen: «Duchamps künstlerische Recherchen waren nicht nur die eines Erotomanen …» Vielmehr zeichneten hellsichtige Forschungen über das Verfahren des Körperabdrucks, der Reproduktion und der Ähnlichkeit sein Werk aus. Mag so gewesen sein – oder auch nicht.
Prière de toucher – Der Tastsinn der Kunst
Fr, 12.2.–Mo, 16.5. Museum Tinguely Basel