Fast anderthalb Jahre zuvor steht Arthur unten vor dem Haus im zehnten Bezirk, und das Blut an seiner Schläfe trocknet langsam ein. Draussen ist es jetzt schon wärmer geworden, fast wie Sommer. Der Pullover und die leichte Jacke, die er trug, als er ins Gefängnis kam, sind jetzt unangemessen warm. Er schwitzt. Die Adresse stimmt, aber er ist mehr als zehn Minuten zu spät. Es nützt ja nichts. Die Tür geht auf, er nimmt die Stufen doppelt. Die Schläfe pocht, das ist mehr als ein Kratzer. Hätte er sich sparen können, jetzt muss er hier so zugerichtet antreten. Zweiter Stock, er vergewissert sich der richtigen Tür, ein kurzes Klopfen. Eine Frauenstimme, die sagt: «Herein, bitte.»
Dass der Mensch automatisch kläglich klingt, wenn er sich entschuldigt. Neben der Frau sitzt ein Mann, der älter aussieht, als er wahrscheinlich ist. Das ist der Therapeut. Der Therapeut ist mit seinem Handy beschäftigt und schaut nur kurz auf. «Alles okay?», fragt die Frau mit Blick auf Arthurs Stirn. Er nickt.
Die Brille des Therapeuten heisst da, wo Arthur aufgewachsen ist, Bundesheerbrille, weil sie früher einmal das Gratismodell für Wehrdienstleistende war. Wer sich nach dem Wehrdienst nichts anderes leisten konnte, trug sie einfach weiter, bis die Brille schliesslich nach Jahren gegen das Leseschwächekassenmodell ausgetauscht wurde. Der Therapeut wedelt mit seiner grossen Hand den Rauch seiner Zigarette über dem Schreibtisch fort und schaut Arthur durch die Bundesheerbrille an.
Es liegt nicht nur an diesem Handy, ein Nokia aus den 90er-Jahren, dass der Therapeut etwas an sich hat, wovon Arthur denkt, «ehemalig». Es ist auch dieser abgetragene, blaue Arbeitsmantel. Und die offensichtliche Provokation, mit der er diese wirklich sehr lauten Klingeltöne nicht abstellt. Will er nicht, oder kann er nicht?
Arthur schaut die Frau an. Gut möglich, dass sie bereit ist, einiges für diese womöglich sehr begehrte Postdoc-Stelle am soziologischen Institut zu ertragen. Genau in dem Moment, als sie wirklich nicht länger so tun kann, als wäre nichts, findet der Therapeut einen Klingelton, der ihm zusagt, und legt diesen mit ausholendem Zeigefinger fest. «Blossom», liest er erfreut.
«Wenn Sie so etwas hören, Betty, woran denken Sie dann?», fragt der Therapeut mit verträumtem Gesicht.» «Mein Name ist Bettina Bergner», sagt sie zu Arthur gewandt. Und zum Therapeuten: «Ich denke an die Daten in unserer Aufnahmemaske. Und wann Sie endlich lernen werden, wie man eine Klientendokumentation eröffnet.»
Arthur versucht ein Lächeln, ihm ist ein bisschen schlecht. Das Blut. Die Entlassung. Oder der Tonfall, in dem die beiden miteinander sprechen, der ihm so fremd ist. Das Belanglose im Singsang dieser Menschen. Was sich in diesem Kollegengeplänkel offenbart. Dass eine Auseinandersetzung mehr oder weniger aus Spass beginnt. Dass im Spass etwas endet.
Heute Vormittag hat Arthur Galleij als freier Mensch das Gefängnis der JVA Gerlitz verlassen. Er hat in der Schleuse seine Sachen genau so zurückbekommen, wie er sie damals abgegeben hatte. Dann ist er einfach davongegangen. Einen Schritt nach dem anderen hat er in seinen braunen Adidas-Sneakers gemacht, einen nächsten und übernächsten, ganz normal, in Jeans, und doch hat er sich gewundert, dass seine Kleidung nicht zerfällt in der Luft, dass nichts von ihm wegbricht oder sich auflöst. So ein junger Mensch zerfällt nicht wie ein Mensch, der 20 Jahre da drin war und sich dann als «S» durch die Freiheit schiebt, mit einem Körper, bei dem sich vorne der Bauch vom Sitzen wölbt und hinten der Buckel vom Warten. Von aussen betrachtet ist es ein gerader Mensch, der das Gebäude verlassen hat.
Arthur kennt niemanden, der eine Blutspur so konsequent übersehen kann wie der Therapeut, dessen Name Arthur lange bekannt war, bevor er ihn zum ersten Mal sah. Mit bürgerlichem Namen heisst er Konstantin Vogl, aber alle nennen ihn Börd. Der Therapeut schaut ihm so lange schweigend und rauchend in die Augen, bis Arthur in den Glasaschenbecher schaut, in dem Börd die Zigarette gründlich ausdrückt, ohne hinzusehen.
Er mustert Arthur durch die Brille, legt aber das Handy nicht aus der Hand. Ihm ist nicht anzusehen, was er denkt. Oder dass er nicht einmal eine halbe Stunde zuvor beim Blättern in Arthurs Akte die flache Hand gegen die Stirn geklatscht und gemurmelt hat: «Dass es so etwas gibt.» Ein seltener Moment, in dem Vogl sich in die Karten schauen lässt. Sein Gegenüber, hat er immer gefunden, muss nicht bei allem mitlesen können, was er sich so denkt. Darum hat er begonnen, sich nichts anmerken zu lassen. Sein direkter Nachbar zum Beispiel hat das Verschwinden seiner Frau Elsa lange nicht bemerkt. Vogl hat immer schon lieber noch einen getrunken, bevor man ihm etwas ansehen konnte. Damit man ihm nichts anmerkt, trinkt er auch heute lieber noch einen. Nie extrem, nie mit Totalabsturz. Nur einen für die Stimmung und einen gegen den Schmerz. «Die Elsa ist immer unterwegs», solche Sätze hat er über den Zaun gesagt, so hat er sich angewöhnt zu sprechen. «Hat Hummeln im Arsch, die Frau.» Einmal hat der Nachbar geantwortet: «Wie sie halt so sind», und Vogl hat ein wenig dümmlich wiederholt: «Wie sie halt so sind.» Dann ist er hineingegangen ins Haus und den Satz nicht mehr losgeworden. Er klang und klang und klang, im Ohr und in der Küche, im Badezimmer und später im Bett, im geschlossenen Mund. Wie sie halt so sind.
Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite
© 2020 Paul Zsolnay Verlag Ges.m.b.H., Wien
Erscheint am Mo, 9.3.
Birgit Birnbacher
Die 1985 geborene Birgit Birnbacher lebt als Soziologin und Autorin in Salzburg. 2016 erschien ihr mehrfach ausgezeichneter Debütroman «Wir ohne Wal». 2019 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis für ihren Prosatext «Der Schrank». Am 9. März erscheint ihr neuer Roman «Ich an meiner Seite» über einen 22-Jährigen, der sich nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis mit Hilfe seines Therapeuten und seiner Ersatzmutter neu erfindet.
Buch
Birgit Birnbacher
Ich an meiner Seite
304 Seiten
(Zsolnay 2020)
Erhältlich ab Mo, 9.3.