Der französische Staatspräsident Émile Loubet wollte im Früh jahr 1900 eine Ausstellung der Impressionisten im Pariser Grand Palais besuchen. Ein eifriger Staatsdiener verwehrte ihm den Zutritt: «Non, Monsieur, hier wird Frankreich geschändet.»
Die kolportierte Episode belegt, welchen Stellenwert Camille Pissarro (1830–1903) und seine Gefährten damals hatten. Die Impressionisten galten im gehobenen Bürgertum als Schmierer. Heute erzielen ihre Werke an Auktionen zweistellige Millionengebote.
Die in New York lebende französische Historikerin Anka ,Muhlstein schildert die präsidiale Episode in ihrem Buch «Camille Pissarro oder Von der Kühnheit zu malen.» Sie setzt damit einem radikalen Künstler ein Denkmal, der zu keinen Kompromissen bereit war.
Die gesellschaftliche Anerkennung blieb aus
Pissarro führte im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen wie Claude Monet, Vincent van Gogh oder Paul Gauguin zwar ein durch und durch geregeltes Leben. Er war sogar ein umsichtiger Familienvater, ein treuer Ehemann und ein politisch zurückhaltender Citoyen. Aber diese Selbstbescheidenheit gab ihm die Freiheit, das zu tun, was er am liebsten tat: malen.
Er war von sich und seiner Kunst stets so überzeugt, dass kaum je Selbstzweifel an ihm nagten. Er verstand sich als verkanntes Genie und lag damit richtig: «Das einzige Mittel gegen Depressionen, sagte er wiederholt, sei es, zu arbeiten und Bilder auszustellen», schreibt Muhlstein. Dies, sofern er die Werke überhaupt zeigen konnte, weil die renommierten Pariser Galerien diese ablehnten.
Seine Frau Julie und ihre acht gemeinsamen Kinder litten zeitweise unter Armut. Erst in Pissarros letzten Lebensjahren war der Familie Wohlstand vergönnt, auch wenn die gesellschaftliche Anerkennung oftmals ausblieb, wie der Besuch des Staatspräsidenten zeigte.
Camille Pissarro wuchs in einer portugiesischjüdischen Familie auf der Karibikinsel Saint Thomas auf, die damals dänisch war. Die Handelsgeschäfte seines Vaters interessierten ihn nicht. Er zog so bald wie möglich nach Paris, um sich als Künstler durchzuschlagen. In jenen Jahren lernte er das Küchenmädchen Julie kennen und zeugte mit ihr ein Kind – zum Entsetzen seiner Familie.
Julie hatte zeit ihres Lebens Mühe mit Lesen und Schreiben, aber sie war die Tüchtigkeit in Person und verstand es, die grosse Familie durchzubringen: «Er fühlte sich ihr gegenüber schuldig, weil er begriff, dass sie buchstäblich den schwersten Teil der Last trug», schreibt Muhlstein.
Die Farben sind der Natur nachempfunden
Wenigstens hatte Pissarro das Glück, die Gunst des unkonventionellen Kunsthändlers Paul Durand-Ruel zu geniessen. Dieser erkannte als einer der wenigen den künstlerischen Wert der Arbeiten von Impressionisten und versuchte, ihre Werke zu verkaufen. Zu Spottpreisen, wie Pissarro befand. Dabei ging es ihm weniger ums Geld als viel mehr um die Wertschätzung.
Pissarro schwelgte mit jeder Arbeit in den der Natur nachempfundenen Farben. Genau das wollte er der Kunstwelt vermitteln – gegen alle Widerstände. Nach der Lektüre dieser Biografie bleibt der Eindruck eines radikalen Künstlers, der seit der Kindheit mit unerschütterlicher Überzeugung seinen eigenen Weg ging.
Buch
Anka Muhlstein
Camille Pissarro oder Von der Kühnheit zu malen
Aus dem Franz. von Ulrich Kunzmann
302 S. (Insel 2024)