Herrndorfs Leben war eine Reihe von Metamorphosen: vom hyperrealistischen Maler und Vermeer-Verehrer über den Cartoonisten zum Bestsellerautor. Das Zeichnen und Malen brachte er sich als Kind bei: «Seit Wolfgang malt, malt er den Himmel und die Wolken, Serien von Himmeln und Wolken, wieder und wieder, so lange, bis er es hinkriegt und es ihm gefällt, aber dann trotzdem noch mal und von Neuem und von vorn.» So beschreibt es Tobias Rüther, Journalist der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung», in der Biografie über Wolfgang Herrndorf.
Mit seiner Krankheit nahm die Karriere Fahrt auf
An der Nürnberger Kunstakademie vertiefte sich Herrndorf in alte Meister, gewann mit einem Gemälde im Stile Vermeers den Akademiepreis 1987. Es folgte ein offener Brief eines leer ausgegangenen Mitstudenten, der sich ärgerte über die Qualitätslosigkeit einer Arbeit, die bis auf die zerrissene Jeans von Vermeer hätte stammen können. Es war eine schwere Zeit, an der Wolf-gang Herrndorf sich noch Jahre später abarbeitete.
Er wehrte sich, brachte am Ende des Studiums Karikaturen, «doofe Kalauer von schwerstintelligenten Menschen im Suff» in die Klasse: «Am Ende des Studiums, nach Jahren obsessiv gearbeiteter, hyperrealistischer Malerei […] ein ‹Fuck you›», schwärmt Tobias Rüther in der Biografie.
In den 90ern geht Herrndorf nach Berlin, wird Buchumschlag-Illustrator und «Titanic»-Cartoonist. Deutsche Bischöfe erstatten Anzeige gegen ihn wegen eines Cartoons, der einen «Toilettensitz und ein Kruzifix als Klorollenhalter» zeigt.
An der Akademie perfektionierte Techniken nimmt er mit in die neue Schaffensphase. So malte er Helmut Kohl im Stile der alten Meister und schrieb dazu: «Seit 784 Jahren lenkt und leitet Helmut Kohl die Geschicke Deutschlands und des angrenzenden Europas.» Die Bilder kamen als Kalender auf den Markt und lösten einen Hype aus.
Im Jahr 2000 begann Wolfgang Herrndorf mit Schreiben. Nach einem an die Popliteratur angelehnten Debüt und einer Kurzgeschichtensammlung erschien 2010 sein Jugendroman «Tschick». Fahrt nahm seine Schriftstellerkarriere aber erst nach der Diagnose auf: «ein hirneigener, bösartiger, schnell wachsender Tumor.» Plötzlich folgten hymnische «Tschick»- Rezensionen, Theateradaptionen, Preise, Filmrechteverhandlungen und Neuauflagen.
Herrndorf schrieb «mit dem Revolver neben dem Laptop». Er steigerte sich in einen 20-monatigen Schaffensrausch, an dessen Ende ein Freund schrieb: «Herrndorf fällt nicht mehr ein, wie die Farbe von Ketchup heisst.» Nun dauerte es nicht mehr lange. Der Autor nahm sich das Leben, «bevor der Tumor es kann und bevor er körperlich nicht mehr in der Lage ist, es selbst zu tun», wie Rüther schreibt.
«Niemals Germanisten ranlassen»
Die Biografie ist ein Pageturner, plappert aber auch manchmal vor sich hin – etwa bei den Versuchen, Figuren aus den Texten an Herrndorfs Biografie festzumachen. Ob das in Herrndorfs Sinne wäre? Eine müssige Erwägung angesichts seines Testaments: «Niemals Germanisten ranlassen. […] Journalisten mit der Waffe in der Hand vertreiben.» Berühmte letzte Wünsche, die nicht in Erfüllung gegangen sind. Zum Glück.
Tobias Rüther
Herrndorf – Eine Biografie
384 Seiten
(Rowohlt 2023)