Das Titelbild dieses Buchs fasst ausnahmsweise einen grossen Teil der Geschichte zusammen. Es zeigt den Ausschnitt eines Porträts des französischen Gynäkologen Samuel Jean Pozzi in einem auffallend roten Mantel. Dandyhaft ist er Modell gestanden, die Finger sind feingliedrig, wie bei einem Pianisten. Auffallend ist die herunterhängende Kordel, die sich offenkundig als überdimensioniertes Geschlechtsteil interpretieren lässt. Pozzi liebte die Frauen.
Imaginäre Brücke über den Kanal schlagen
Dem englischen Schriftsteller Julian Barnes ist mit dem Roman «Der Mann im roten Rock» wieder ein literarisches Meisterwerk gelungen. Der frankophile Barnes beschäftigt sich zeit seines Lebens mit dem Verhältnis zwischen den Britischen Inseln und dem Kontinent. Nun erweitert er das Thema um ein neues Kapitel mit einer im wörtlichen Sinn farbenprächtigen Figur; Pozzis Vater war Franzose, die Mutter Britin.
Barnes steigt mit einer Londoner Reise von Pozzi und zwei schwulen Gefährten in die Geschichte ein. Sie treffen den US-Schriftsteller Henry James, der sie wiederum in den Reform-Club einlädt. Das ist der Ort, wo der Franzose Jules Verne seinen englischen Helden Phileas Fogg die Wette eingehen liess, dass sich die Welt in 80 Tagen umrunden lasse, womit die imaginäre Brücke über den Kanal wieder geschlagen wäre.
Pozzis Leben in zahlreichen Episoden
Samuel Pozzi (1846–1918) war ein Tausendsassa, wiewohl wir nur wenig von ihm wissen: «Er war ein chirurgischer Neuerer in einem für seinen Konservatismus bekannten Beruf; und ein Don Juan in einer Gesellschaft, in der nicht alle Ehemänner ihre Frauen lächelnd gewähren lies-sen.» Etwa dann, wenn sie mit dem reich, aber unglücklich verheirateten Pozzi anbandelten. Das tat auch die legendäre Schauspielerin Sarah Bernhardt, der Pozzi als Arzt und als Liebhaber diente, wie Barnes genüsslich schreibt. Sie wird es nicht bereut haben, denn Pozzi rettete zahlreichen Frauen das Leben, weil er als Erster die Regeln strikter Hygiene und der Desinfektion einhielt: «Er war ein hochintelligenter, entscheidungsfreudiger, wissenschaftlicher Rationalist.»
Barnes berichtet episodenhaft vom Leben dieses Arztes. Zur Illustration lässt er zahlreiche Geistesgrössen der Belle Époque auftreten – den Maler Claude Monet, die Schriftstellerin George Sand oder ihren Berufskollegen Marcel Proust. Einen prominenten Platz nimmt der Ire Oscar Wilde ein, den Barnes aus seiner schwulen Opferrolle befreit. Wilde erscheint vielmehr als ein selbstverliebter Gockel, der eine Verurteilung als «Sodomist» geradezu provozierte, weil er sein Erscheinen vor einem Londoner Geschworenengericht mit einem eitlen Bühnenauftritt im Westend verwechselte.
Pozzi verfolgte neben seinen gesellschaftlichen, beruflichen und amourösen Verpflichtungen eine kurze politische Karriere. Er vertrat seine Heimatregion Dordogne im Senat. Im Ersten Weltkrieg war er Militärarzt und fand noch kurz vor dem Waffenstillstand ein absurdes Ende. Ein Patient, der sich falsch behandelt fühlte, schoss ihm in den Bauch: «Pozzi bestimmt die von ihm gewünschte Narkose – genug, um die Schmerzen zu betäuben, aber nicht so viel, dass das Bewusstsein ausgeschaltet wird.» So konnte er die Operation an sich selbst verfolgen – bis zum bitteren Ende.
Julian Barnes
Der Mann im roten Rock
Mit 96 Porträt-Abbildungen
299 S. (Kiepenheuer & Witsch 2021)