Hier war er am glücklichsten. In der Liegenschaft 103 an der Great Portland Street in London. Die klassizistische Liegenschaft steht heute noch an dieser relativ ruhigen Geschäftsstrasse gleich beim Oxford Circus. Im Frühjahr 1829 kam der 20-jährige Felix Mendelssohn in das elegante Westend, wo die wichtigen Konzertsäle waren, die er nach dem Willen seines Vaters erobern sollte.
Der geniale Sohn enttäuschte ihn nicht: «Anfang Mai erhielt er die erste Einladung, an einem öffentlichen Konzert im Orchester des King’s Theatre mitzuwirken – als Bratschist mitten im Orchester.» Es folgten vier weitere Konzerte mit Mendelssohn als Solist. Dann kam Anfrage um Anfrage. Zum Dank widmete er seine erste grosse Komposition, die c-Moll-Sinfonie op. 11, der Londoner Philharmonic Society und wurde zum Ehrenmitglied ernannt. Mit 20 hatte der gebürtige Berliner den internationalen Durchbruch geschafft.
So schildert die österreichische Autorin Rosemarie Marschner Mendelssohns Ankunft in England in ihrer neuen Biografie «Good Morning, Mr. Mendelssohn». Sie zeichnet das differenzierte Porträt eines begnadeten Musikers, der sich allerdings laufend überforderte. Denn die gesellschaftliche Anerkennung war ihm wichtig. Laut Marschner «konnte er nicht ‹Nein› sagen, das war sein einziger Fehler, aber ein grosser». Als ob er geahnt hätte, wir früh ihn der Tod holen sollte, führte der Musiker ein hektisches Leben.
Aus gut betuchtem Hause
Felix kam mit dem Goldlöffel im Mund zur Welt. Sein Vater war ein reicher Berliner Bankier mit Sinn für die schönen Künste. Seine Mutter eine weitblickende, sensible Frau, die sich intensiv für die künstlerische Ausbildung ihrer vier Kinder einsetzte. Neben Felix war auch seine Schwester Fanny mit einem ausserordentlichen musikalischen Talent gesegnet.
Mendelssohn glaubte stets an sich. Er durfte bereits als 12-Jähriger keinem Geringeren als Johann Wolfgang Goethe auf dem Klavier vorspielen, dessen Meinung damals in Weimar als das Mass aller kulturellen Leistungen galt. Tatsächlich liess sich dieser von dem Kind beeindrucken, Mendelssohn war somit noch vor der Pubertät auf dem Olymp der gesellschaftlichen Anerkennung angekommen. Zeit seines Lebens verkehrte er mit all den Grossen jener Jahre. Er stand in der Gunst des Preussenkönigs Friedrich Wilhelm IV. und war dem politischen Aufklärer Heinrich Heine verbunden.
Zum Christentum konvertiert
All diese Wertschätzung erfuhr indes durch den Antisemitismus eine Trübung. Schon Mendelssohns Vater veranlasste deshalb, dass die gesamte Familie vom Judentum zum lutherischen Glauben konvertierte, und ersetzte den Familiennamen Mendelssohn mit ‹Bartholdy›. Der besorgte Familienpatriarch schien das Schicksal der deutschen Juden 100 Jahre später prophetisch vorausgeahnt zu haben. Der junge Felix hielt vom christlichen Bekenntnis indes nichts, blieb bei seinem ursprünglichen Namen und setzte nicht einmal ‹Bartholdy› hintenan, wie das seine Anhänger posthum taten.
Ecksteine von Mendelssohns Laufbahn sind unübersehbar. So erhielt er 1833 in Düsseldorf die Stelle eines Städtischen Musikdirektors. In jener Zeit komponierte er das Paulus-Oratorium nach der Lebensgeschichte des Apostels Paulus. Es erlebte drei Jahre später am Niederrheinischen Musikfest seine Premiere und gilt bis heute als einer der musikalischen Höhepunkte der Romantik.
Aber später, Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, entsprach der Zeitgeist Mendelssohn nicht mehr. Seine Musik galt als gefällig, als wenig innovativ, als zu biedermeierlich. Biografin Marschner sagt dazu: «Zur Zeit Mendelssohns hatte man sich in die Salons zurückgezogen, seine Musik ist zum Teil sehr privat.» Sein bis heute geltender Ruf, ein angepasster Musiker gewesen zu sein, findet Marschner ungerecht: «Wir wissen ja nicht, was er als reifer Komponist geschrieben hätte, da er mit 38 Jahren nach einem Schlaganfall verstarb.»
Vier Jahre intensive Recherche
Heute ist der Komponist gefragter denn je. Eben erzielte ein eher unbedeutendes Notenmanuskript zur Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach, das Mendelssohn eigenhändig geschrieben hatte, an einer Zürcher Auktion einen Preis von 180 000 Franken.
Autorin Rosemarie Marschner hat sich vier Jahre intensiv mit Felix Mendelssohn befasst. Sie hat die Erzählform einer «biografischen Fiktion» gewählt. Das heisst, sie hielt sich akribisch an die äusseren Fakten seines Lebenswegs, hat aber die Dialoge und Mendelssohns mögliche Seelenzustände erfunden. Das ist ein risikoreiches Unterfangen. Marschners Einsatz hat sich jedoch gelohnt. Nach der Lektüre dieses Buchs fühlt man sich dem Komponisten näher denn je.
Buch
Rosemarie Marschner
«Good Morning, Mr. Mendelssohn»
510 Seiten
(dtv 2017).