Immer wieder zog es ihn in die Schweiz. Der englische Künstler William Turner (1775–1851) fand hier die Landschaft und vor allem das Licht, das sein Werk prägte. Schon früh faszinierte ihn der Vierwaldstättersee mit seinen Bergen.
Turners Serie von Stimmungen der Rigi nahm in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Impressionismus vorweg, der eine Generation später die europäische Malerei bestimmen sollte. Zu diesem Befund kommt der deutsche Kunsthistoriker Boris von Brauchitsch in seiner neuen Biografie. Er zeichnet das Bild eines von seiner Malerei besessenen Sonderlings, der mit seinen Mitmenschen nicht zurechtkam.
So beschreibt ihn ein Zeitgenosse: «Eine untersetzte, stämmige Figur mit breiten Schultern und zähen Muskeln glich er eher einem Capitän der Handelsmarine als einem Jünger Apolls, war sparsam bis zum Geiz, unbeleckt von aller Cultur, selbst von den Regeln der Orthografie, unzugänglich und schweigsam.»
Auf langen Reisen quer durch Europa schien er ständig auf der Flucht vor den Menschen und sich selbst zu sein. Gleichzeitig skizzierte er unentwegt, brachte die Zeichnungen nach Hause, wo er sie in seine Gemälde und Aquarelle umsetzte. Mit seiner Kunst suchte er die Wertschätzung der Mitmenschen, die ihm im persönlichen Umgang verwehrt blieb.
Eindrückliche Souvenirs auf Papier oder Leinwand
Turner wusste genau, was bei seinen Zeitgenossen ankam. So setzte er geschickt auf die Angst der Briten vor Napoleon: etwa mit einer monumentalen Darstellung der Seeschlacht von Trafalgar, bei der Admiral Lord Nelson sein Leben verlor.
Dem Zeitgeist entsprechend überhöhte der Maler die Begegnung der Kriegsschiffe religiös, wie von Brauchitsch schreibt: «Bei dem Dreimaster mag man gar an Golgatha denken, jenen Ort, an dem Christus sterbend zum Erlöser der Menschheit wird.»
Turner wuchs als Sohn eines Coiffeurs im Londoner Stadtteil Covent Garden auf. Seine depressive Mutter kam früh in eine Psychiatrie, und er flüchtete sich schon als Teenager in die Kunst. Mit einem Stipendium konnte er die Royal Academy besuchen, deren Mitglied er bereits mit 24 Jahren wurde.
Damit gehörte Turner denkbar früh zum erlesenen Zirkel der Londoner Kunstelite. Deren Anerkennung war ihm zeitlebens wichtig, nicht nur gesellschaftlich, auch finanziell. Trotz seinen charakterlichen Eigenheiten konnte er stets auf Mäzene zählen.
Zur Schweiz pflegte er eine enge Beziehung. Drei Jahre nach der Aufnahme in die Academy unternahm er seine erste grosse Kontinentalreise: «Höhepunkt dieser Reise, nicht nur in topografischer Hinsicht, war die Überfahrt über den Vierwaldstättersee und die folgende Tour auf den Gotthard-Pass.»
Das war weniger extravagant, als man heute meinen könnte, denn Hunderte von Briten bezwangen damals jährlich den Gotthard. Turner wusste genau, was er seiner Kundschaft mit seinen Darstellungen der Schweizer Berglandschaft schuldete – eindrückliche Souvenirs auf Papier oder Leinwand.
Boris von Brauchitsch
William Turner
256 Seiten
(Insel 2024)