Marilyn Monroe brachte ihm den Durchbruch. «Mehr als die Hälfte der Leinwände in der Galerie war mit Marilyns Gesicht bedruckt, in allen Farben von Blau über Minzgrün bis Lavendel», schreibt US-Kunstkritiker Blake Gopnik in seiner neuen, monumentalen Biografie über Andy Warhol. Die Porträts der Filmgöttin bescherten dem nicht mehr ganz jungen Künstler 1962 in einer New Yorker Galerie die ersehnte Medienaufmerksamkeit, auf die er jahrelang gewartet hatte. Der Furor war besonders gross, weil sich die Schauspielerin im gleichen Jahr das Leben genommen hatte.
Mit grossem Flair für das liebe Geld
Bis heute stehen die Marilyn-Siebdrucke für den Aufbruch der US-Kunstszene in der Nachkriegszeit. Sie schlugen die Brücke zwischen dem elitären Kulturbetrieb zu einem demokratischen Kunstverständnis, das jedermann zugänglich war. Diese Entwicklung prägte Warhol (1928–1987) massgeblich mit.
Er stammte aus einer osteuropäischen Bauernfamilie, die in die USA ausgewandert war, und entwickelte als Junge einen unbändigen Ehrgeiz, den er Zeit seines Lebens behalten sollte – mit grossem Flair für das liebe Geld. Warhol war Unternehmer und Künstler gleichzeitig. Dies illustriert eine Episode aus seinen jungen Tagen als Werbegrafiker nach seiner Fachausbildung. So trabte er bei der Grafikabteilung von Columbia Records mit einem ganzen Stapel von Vorschlägen an, als er Ende der 1940er eingeladen wurde, drei Zeichnungen für einen Plattenumschlag zu gestalten: «Warhol wusste um die kulturelle Bedeutung von Covers», schreibt Gopnik. Sie waren Statussymbole, zeugten vom musikalischen Verständnis ihrer Besitzer und wurden deshalb herumgeboten.
Ironische Distanzierung von der Konsumwelt
Warhol übernahm gerne lukrative Werbeaufträge, vergass aber die Kunst nie. So verstand er seine illustrativen Darstellungen der Campbell’s Soup Cans oder Brillo-Boxen als künstlerisch: «Der ganze Witz ginge verloren, wenn die Sache kommerziell eingebunden würde», sagte Warhol dazu. Er suchte die ironische Distanzierung von der Konsumwelt, ohne diese indes radikal abzulehnen. Das verstand sogar die Direktion des Suppenkonzerns und verzichtete darauf, eines der Werke zu kaufen. Hübsches Detail: Warhol liebte Dosensuppen tatsächlich.
Gesellschaftskritik war Warhol fremd. Dennoch beschäftigten ihn die Auswüchse der US-Gesellschaft. Typisch dafür sind die «Electric Chairs»: «Sie basierten auf einem Foto des Stuhls, auf dem 1953 Julius und Ethel Rosenberg hingerichtet worden waren.» Die beiden waren US-amerikanische Linke, die als Spione im Kalten Krieg angeblich der Sowjetunion gedient hatten.
Im Zusammenhang mit diesen Stühlen soll die Malerin Elaine de Koonings gesagt haben, der elektrische Stuhl sei der einzige Beitrag der Amerikaner zur Möbelgeschichte.
Wahr oder nicht, Warhol verstand es wie kein Zweiter, die Kunst mit dem Geschäft zu verbinden – bis 1968, seinem Schicksalsjahr: «Das erste Mal starb Andy Warhol am 3. Juni 1968 um 16.11 Uhr.» Die geistesgestörte Valerie Solanas hatte ihn vor seinem damaligen Atelier, der «Factory» am Union Square in New York, niedergeschossen. In der Folge entbrannte ein bizarrer Streit unter Feministinnen, ob die Tat als Schritt zur Gleichberechtigung statthaft gewesen sei oder nicht. Warhol galt als augenscheinlich tot, doch ein erfahrener Chirurg entdeckte noch einen Funken Leben in ihm. Später musste er sich einer langen Operation unterziehen: «Riesige Nähte überzogen Warhols Rumpf mit einem frankensteinhaften Netz von Narben.» Er liess sich damit gerne fotografieren.
Stets in Gesellschaft von Berühmtheiten
Warhol war ein vielseitiger Mensch, der scheinbar alle möglichen Ausdrucksformen zu nutzen verstand. Davon zeugen auch seine Experimentalfilme, die ihm künstlerisch wichtiger waren als die Bilder. Besondere Aufmerksamkeit verdient der Film «Empire», «eine Acht-Stunden-Erektion», wie ihn Warhol nannte. Er filmte mit seiner Crew das New Yorker Empire State Building eine Nacht lang als «Stillie» von einem Nachbargebäude aus: «Ein paar Minuten vor 20 Uhr fuhren sie (…) mit dem Aufzug hoch zu ihrem Beobachtungsposten, mit einem ordentlichen Vorrat nicht nur an Filmrollen, sondern auch mit reichlich Sandwiches, Bier und Gras.» So lustig kann das Filmdrehen sein.
Die neue Biografie belegt, welch facettenreiche Persönlichkeit Andy Warhol war. So sonnte er sich gerne in der Gesellschaft von Berühmtheiten wie Mick Jagger oder Politikern wie dem US-Präsidenten Gerald Ford. Vor allem aber kannte Warhol keine Hemmungen, sich Aufträge umstrittener Figuren zu ergattern. Sie interessierten ihn künstlerisch wie kommerziell: «Warhol hatte eine Zeit lang alles versucht, einen Auftrag von Imelda Marcos zu ergattern, der kleptokratischen First Lady der Philippinen.» Trotz allem biss sie nicht an; wahrscheinlich hielt sie wenig von Kunst. Ganz anders der später gestürzte Schah Reza Pahlevi von Iran, dessen Frau, die Kaiserin, Warhol einen grossen Porträt-Auftrag zukommen liess. Dem Ruf anderer Künstler hätten solch enge Kontakte geschadet. Nicht aber Warhol, in seinem Fall gehörte das zu seiner Eigenwilligkeit.
Buch
Blake Gopnik
Warhol – Ein Leben als Kunst
1227 Seiten
(C. Bertelsmann 2020)