Zur Musik von Philip Glass brechen sich die Wellen der Barentsee am Ufer der rauen, naturschönen Küstenlandschaft im Nordwesten von Russland. Hier lebt der Automechaniker Kolja (Alexej Serebrjakow) mit seiner Frau Lilya (Jelena Ljadowa) und dem halbwüchsigen Sohn Roma. Sein Haus liegt oben am Hang, mit Blick auf die Hafenstadt, die schon bessere Tage kannte.
Sein Heim soll ihm genommen werden. Der korrupte Bürgermeister Vadim will das Grundstück praktisch enteignen. In der hoffnungslosen Lage, wo Verwaltung, Polizei, Justiz und Klerus unter einer Decke stecken, holt Kolja seinen Freund Dmitri (Wladimir Wdowitschenkow) zu Hilfe. Der Anwalt aus Moskau bemüht sich, Gerechtigkeit wiederherzustellen. Doch das ist ein Gut, das unter solchen Vorzeichen kaum zu haben ist. Alle sind korrupt, alle kuschen.
Ein heutiger Hiob
Kolja wird alles verlieren. Selbst für den Tod seiner geliebten Frau Lilya wird er verantwortlich gemacht. Freund Dimitri, der in höchster Not helfen könnte, wird von Vadims Schergen eingeschüchtert und reist, verprügelt, nach Moskau zurück.
Kolja ist das Individuum im Kampf gegen das System. Ein Mensch, dem Leid und grosses Unrecht widerfahren. An Gott glaubt dieser heutige Hiob nicht. Was er zu verlieren hat, ist der Glaube an den russischen Staat, an dessen Institutionen.
Das Wal-Skelett, das wiederholt kurz im Film erscheint, steht für das Monster des Filmtitels. Der Film ist von mehreren Quellen inspiriert. Einmal ist es die Schrift «Leviathan» (1651) des englischen Philosophen Thomas Hobbes. Dazu Regisseur Andrei Swjaginzew: «Der Staat ist ein von Menschenhand erzeugtes Monster, um einen Krieg ‹Alle gegen alle› zu verhindern, und entstanden durch den verständlichen Wunsch, die Sicherheit gegen die Freiheit einzutauschen, das einzig wahre Gut des Menschen.»
Eine weitere Inspirationsquelle bildet Heinrich von Kleists Ungerechtigkeits-Novelle «Michael Kohlhaas». Nicht zu vergessen die alttestamentarische Geschichte von Hiob. Sie kommen im Drehbuch von Andrei Swjaginzew und Oleg Negin zusammen, werden motivisch verknüpft in diesem episch breiten, bildstarken Panorama aus dem heutigen Russland.
Das klingt nach einem schweren, bleiernen Film. Doch es hat bei allem Elend auch Platz für komische Momente. Wie etwa dann, wenn in einer realsatirischen Szene eine Richterin minutenlang atemlos eine Urteilsbegründung herunterrattert.
Oder: Der Wodka-selige Verkehrspolizist hat beim Picknick Porträts von Sowjetführern (bis Gorbatschow) mitgebracht, auf die sich mit den Jagdgewehren trefflich schiessen lasse. Wieso keine aktuellen Führer als Zielscheiben beim Schiessspass? Dafür sei die historische Distanz noch zu gering. Putin hängt bei Bürgermeister Vadim an der Bürowand.
«Leviathan» wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Drehbuchpreis in Cannes.
Leviathan
Regie: Andrei Swjaginzew
Ab Do, 5.3., im Kino