Mit Säge und Gewehr ist der Arbeiter wohl gerüstet. Das Agitprop-Plakat stammt aus der Werkstatt der Revolutionären Nachrichtenagentur (Rosta) der sowjetischen Bolschewiken aus den frühen 1920ern: «Begleitet wird die Plakatarbeit mit agitatorischen Volksfesten, Volkstheatern, Jahrmärkten und aufgestellten Architekturkulissen, die die kommenden Freuden einer sozialistischen Gesellschaft zeigen sollen», heisst es im neuen Bildband «The Roaring Twenties». Der Historiker Detlef Berghorn und der Soziologe Markus Hattstein beleuchten darin die Gegensätzlichkeit der damaligen Welt, wie die revolutionäre Arbeitswelt im Osten oder der ausschweifende Lebensgenuss im Westen.
Aufbauarbeit kontra überschäumendes Leben
Während sich die Menschen in der jungen Sowjetunion eine scheinbar bessere Gesellschaft aufbauten, experimentierten auf der anderen Seite der Welt Künstler mit neuen Lebensformen. Die Industriemetropole Chicago stand in jenem Jahrzehnt im Zeichen des Jazz, den schwarze Musiker mit der «Great Migration» aus dem Süden in den Norden brachten: «Im sogenannten ‹Black Belt›, den hauptsächlich von Schwarzen bewohnten Stadtteilen in Chicagos South Side, reihten sich in der Amüsiermeile ‹The Stroll› zeitweise mehr als 70 Nachtclubs und Ballsäle aneinander.» Die Industriestadt des Nordens löste New Orleans als führende Jazzmetropole ab.
Von Berlin über New York bis nach Shanghai
«The Roaring Twenties» beleuchtet in rund 70 Kapiteln die 1920er-Jahre in den wichtigsten Zentren der damaligen Welt – von Berlin über New York bis nach Shanghai. Dabei stösst die Leserschaft auf Bekanntes, wie die politische Gewalt in der Weimarer Republik oder die «Flapper Girls» mit ihren eng anliegenden Kleidern, ausgefallenem Schmuck und neckischem Kurzhaarschnitt.
Aber wer hat schon von der Green Gang in Shanghai gehört? «Im April 1927 rollen abgeschlagene Köpfe wie Pflaumen über die Strassen von Shanghai.» Die Mitglieder der kriminellen Geheimgesellschaft Green Gang machten Jagd auf alle, die ihren Geschäften im Weg standen, vor allem aber auf die Kommunisten, die zum Kampf gegen das organisierte Verbrechen angetreten waren. Die Green-Gang-Aktivisten schlossen sich später der Partei Kuomintang an, welche die Kommunisten Maos in einem Bürgerkrieg vergeblich niederzuschlagen versuchte.
London im Bann der «Forty Elephants»
Andere Episoden sind lebensfreudiger, etwa das Kapitel über den Lindy Hop, den nach dem Flugpionier Charles Lindbergh benannten Tanz, der den Charleston mit dem Stepptanz und Jazz Dance verbindet. Er gehörte zum Repertoire der Big Bands, die ihn gerne mit akrobatischen Einlagen aufpeppten.
Der Band «The Roaring Twenties» bestätigt viele Klischees jener Dekade. Er beleuchtet indes auch vergessene Episoden, die selbst Kennern der Epoche nicht zwingend bekannt sein dürften. So stand London beispielsweise im Bann der «Forty Elephants», einer straff organisierten Frauengruppe, die unter der Leitung wechselnder «Queens» stand. Sie empfanden die materielle Ungleichheit jener Zeit als störend und schritten zur Selbsthilfe, indem sie Luxusgeschäfte ausraubten und sich den Schmuck selber schenkten. Wenn es um ein ganz grosses Ding ging, waren sie sich nicht zu schade, den Gangster Wag McDonald um Hilfe zu bitten. Der Mann hatte so viel Köpfchen, um sich rechtzeitig in die USA abzusetzen, als es brenzlig wurde. Er brachte es später immerhin zum Leibwächter von Charlie Chaplin.
Buch
Detlef Berghorn, Markus Hattstein
The Roaring Twenties
207 Seiten, inkl. 100 Abbildungen
(WBG Theiss 2019)