Das Zürcher Niederdorf ist eine Welt der Hinterhöfe. Von den Gassen aus bleiben sie unsichtbar. Genauso wie das Atelier des Aquarellisten Willi Facen. Einst versammelten sich an diesem Ort die Anhänger der Täufer. Seit 1967 malt der 91-Jährige hier seine Bilder. Der Raum ist Werkstatt, Galerie, Rumpelkammer und Kuriositätenkabinett in einem. Das Tageslicht ist gedämpft. Es fällt durch matt gewordene Oberlichter. Geheizt wird mit einem Ölofen.
«In seinem Atelier malt Willi Facen gegen das Vergehen an, gegen das Entfliehen der Zeit und gegen den eigenen Tod», schreibt Manfred Papst, Autor der «NZZ am Sonntag», in der Werkbiografie «Willi Facen. Überlebensstrategien».
«Ich bin süchtig nach dem Malen»
Trotz der Themenschwere wohnt den Bildern häufig eine Leichtigkeit inne. Die meist grossflächigen Aquarelle sind lichtdurchflutet. Selbst die eindrücklichen, in düsteren Blautönen gehaltenen Porträts seiner Mutter auf dem Sterbebett strahlen – bei allem Schmerz – Hoffnung und Wärme aus. Willi Facen zählt die acht Bilder zu seinen wertvollsten Werken.
Nicht weniger eindrücklich sind seine Aquarelle des Turmbaus zu Babel und der Arche Noah. Neben archetypischen Darstellungen teilt er auch die Faszination der französischen Impressionisten für das damals moderne Grossstadtleben. Immer wieder malte er die grossen Hallen des Gare Saint-Lazare, des Gare de l’Est und des Gare du Nord. Neben Frankreich gehörte Ägypten zu seinen häufigsten Reisezielen. Dort beobachtete er das Licht und die Menschen. Abends hielt er im Hotel das Gesehene mit Stift und Pinsel fest. «Ich bin süchtig nach dem Malen», sagt er im Buch. Es habe ihn aber auch einsam gemacht. Im Grunde sei er mit der Malerei verheiratet, sagt seine erste Frau. Mit seiner zweiten Frau ist er mit 70 Jahren nochmals Vater geworden.
Am Kunstbetrieb mit seinem flüchtigen Auf und Ab und der Jagd nach Anerkennung nahm Facen nie teil. Er musste keine Bilder verkaufen. Das Geld verdiente er als Kantonsschullehrer. «Es gibt Leute, die dauernd in den Kategorien von Sieg und Niederlage denken und sprechen», sagt er. «Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich freue mich darüber, wenn meine Bilder anderen gefallen, aber sie müssen vor allem mich überzeugen.»
Das Atelier als Heimat und Rückzugsort
Facens Seh- und Hörkräfte schwinden. Das Arbeiten fällt ihm schwer. Für grosse Werke reicht die Konzentrationsfähigkeit nicht mehr. «Der Tinnitus beherrscht meinen Kopf und lässt es nicht mehr zu, mich in die Malerei zu vertiefen.»
2017/18 fand im Zürcher Helmhaus die erste grosse Ausstellung seiner Bilder statt. Im Anschluss vermachte er 187 Blätter der Zentralbibliothek Zürich. Sein Atelier ist weiterhin Heimat und Rückzugsort. Reisen bleiben unverzichtbar. «Auf meinen langen Zugreisen nähren sich mein Auge und mein Geist an den Lichtträumen der Natur, alles erscheint immer wieder in einem anderen Licht.»
Buch
Marie-Christine Looser, Philippe Sablonier
Willi Facen. Überlebensstrategien
168 Seiten
(Scheidegger & Spiess 2021)