Sie besingen den Frühling jeden Tag etwas früher, man kann sich fühlen wie einer im goldenen Käfig oder ihn anderen zeigen. Der Fotograf Tom Krausz zoomt nun so nahe an unsere gefiederten Freunde heran, dass nur noch die Gesichter bleiben: So entstehen Porträts von Charakterköpfen, Detailstudien, bei denen alleine die Menge verschiedener Köpfe zwischen Glatze und Hochsteckfrisur erstaunt.
Alles andere als trockene Ornithologie
Texte von Elke Heidenreich und Urs Heinz Aerni begleiten die Fotos. Sie nähern sich ihren Sujets auf ebenso diskrete wie lustvolle Weise. Das geht von freien Assoziationen über Goethe-Zitate bis zu Kuriositäten. Zu jedem Vogel steht eingangs eine Übersicht ornithologischer Fakten. Damit hat es sich mit dem Kauderwelsch, die Texte leben von liebenswürdigen Wortspielen: «Er fliegt quasi durchs Wasser und wirkt an Land, aufrecht gehend, wie ein strenger Bürovorsteher», heisst es zum Humboldtpinguin.
An anderer Stelle wird gerätselt, was es wohl für Schlagzeilen braucht, damit wir Menschen mehr in den Vögeln sehen als die Quellen von Kotflecken auf unseren Kleidern: «Tödlichster Vogel der Welt hat seinen Besitzer getötet.» Diese Schlagzeile zum Einlappenkasuar, einem bis zu 85 kg schweren Vogel mit sehr gefährlicher Kralle, dürfte das erreichen. Schade, dass nur solche Vogel-Schlagzeilen es in die Medien schaffen – es gäbe viel mehr zu berichten: «Sie ist der Macho!» etwa oder: «Helm schützt vor Sonnenstich».
Die perfekte Ergänzung zu «Aves» ist das 1913 erschienene «Buch der schrägen Vögel» des englischen Dichters V. C. Vickers. «Gib Acht!! Was ist das für ein Laut? / Leidet da einer Höllenpein? – / O nein!! Die alte Wabbelzeh wird’s sein, / der’s vor der eignen Nase graut.» So dichtet Vickers über die frei erfundene «Schwabbelzehe», die tatsächlich eine riesige, unnütze Nase hat.
Vickers’ an Lewis Carroll erinnernden Nonsensgedichte werden von farbenprächtigen Tuschezeichnungen des Autors begleitet. In den Gedichten nimmt Vickers auch Ornithologen aufs Korn. Etwa einen, der den Schnabel eines Ibis mit einer Zitruspresse verglich: «Schau, was die Zitruspresse tut: / Sie füttert Herbert und Klein-Ruth.» Passend dazu die schrullige Zeichnung von einem Vogel, der in seinem Schnabel Zitronen presst und so Küken füttert. Die Originalausgabe von Vickers’ Buch hiess übrigens «The Google Book» und liegt nun erstmals in zweisprachiger Ausgabe bei Reclam vor.
Bei aller Fantasie entdeckt man zwischen den beiden Büchern auch Ähnlichkeiten. Wer etwa bei Vickers’ Vogel «Die Tango» zu Krausz’ «Rosaflamingo» blättert und speziell auf die Augen achtet, wird staunen. Leidenschaftliche Ornithologie ist alles andere als trockene Materie.
Bücher
V. C. Vickers
Das Buch der schrägen Vögel
Aus dem Englischen von Harald Beck
88 Seiten
(Reclam 2021)
Tom Krausz (Fotografie),
Urs Heinz Aerni & Elke Heidenreich (Texte)
Aves – Vögel. Charakterköpfe
176 Seiten
90 Duplexabbildungen
(Dölling und Galitz 2020)