«Du musst jederzeit bereit sein, zu fliehen oder zu kämpfen, Junge.» Der Protagonist Nami erhält diesen Rat von einer alten Dame in Bianca Bellovás neuem Roman. Gemäss diesem Motto verläuft auch sein Leben: Nach einer kurzen sorglosen Kindheit bei seinen Grosseltern im fiktiven Dorf Boros in der zerfallenden Sowjetunion, lernt er die düsteren Seiten des Lebens kennen.
Sein Grossvater wird bei einem Sturm vom «Seegeist» geholt. Und seine nach einem Sturz schwer verletzte Oma wird mit Schamanengesang in einem Kahn ebendiesem gefürchteten Naturgott übergeben – so will es der Brauch.
Nur noch Platz im Hühnerstall
Nami, fast noch Kind, ist fortan auf sich allein gestellt. Der Kolchosevorsitzende und dessen Familie übernehmen Namis Grosselternhaus. Für den Jungen bleibt darin nur noch Platz im Hühnerstall, der Vorsitzende entpuppt sich als gewalttätiger Mann. Als Nami miterleben muss, wie seine Jugendliebe Zaza von russischen Soldaten vergewaltigt wird, flieht er in die Stadt. Dort will er seine Mutter wiederfinden, an die er nur eine vage Erinnerung hat. Als Dreijähriger hatte er mit ihr einen Nachmittag am See verbracht: Er entsinnt sich der drei Dreiecke ihres Bikinis und ihrer angenehm tiefen Stimme.
Schmerzvolle Geschichte unsentimental erzählt
Die Prager Autorin Bianca Bellová erzählt in ihrem Roman eine schmerzvolle Entwicklungsgeschichte. Der Mangel an Zärtlichkeit lässt Nami innerlich regelrecht aushungern. Es gibt aber auch Menschen, die ihm wohlgesinnt sind: Sein älterer Arbeitskollege Nikititsch, der ihn unter seine Fittiche nimmt. Ein Kapitän, der ihn aus einer misslichen Lage befreit. Oder eine alte Dame, die ihm Zuflucht gewährt.
Bellová erzählt die Geschichte ohne Sentimentalität, oft im rauen Umgangston der Bewohner. In anderen Szenen findet sie eine bildstarke Sprache, um Namis Einsamkeit zu beschreiben. Etwa wenn der junge Mann bei der Arbeit «unauffällig seinen Schmerz in den frisch ausgebrachten Asphalt zeichnet»: «Grossmutters grosse Hände, die Rundungen eines Frauenkörpers, die Hühner im stinkenden Stall, die drei Dreiecke.» Die Welt erschliesst sich Nami oft über Gerüche: Bei seiner Ankunft in der Hauptstadt riecht es nach «Fäkalien, süssen Parfüms und Bratfett». Und die Männer an der Arbeitsbörse verströmen den «Duft nach Menschlichkeit und ungewaschener Unterwäsche».
Allgegenwärtige Naturzerstörung
Zu der menschlichen Tristesse kommt die trostlose, von Umweltverschmutzung zerfressene Landschaft. Der See, an dem Nami aufwächst, ist verseucht. Die Dorfbewohner leiden unter Ekzemen, viele Kinder haben Missbildungen. In der Stadt arbeitet Nami in der Schwefelproduktion, wo die kaum geschützten Arbeiter Lungenkrankheiten in Kauf nehmen. Die Zerstörung der Natur ist allgegenwärtig.
Die 1970 in Prag geborene Autorin und Übersetzerin Bianca Bellová wurde in ihrer Heimat bereits mehrfach für ihre Romane und Novellen ausgezeichnet. Für ihren vierten Roman «Am See» erhielt sie den tschechischen Buchpreis sowie den Europäischen Literaturpreis.
Ihren Roman gliedert sie in vier Teile: «Ei», «Larve», «Puppe» und «Imago». Die Kapitel kennzeichnen die Stationen, die Nami durchläuft: von der Kindheit im Dorf über die harte Arbeitswelt in der Stadt bis zum Treffen mit seiner Mutter in einem Wüstendorf. Schliesslich kehrt er um ernüchternde Erfahrungen reicher zurück in sein Dorf. Den Rat der alten Dame – fliehen oder kämpfen – wird er in seiner alten Heimat mehr den je beherzigen müssen.
Buch
Bianca Bellová
Am See
Aus dem Tschechischen von Mirko Kraetsch
240 Seiten
(Kein & Aber 2018)