Ein mehrstöckiges, ehemaliges Fabrikgebäude nahe der Rhone ist sein Genfer Studio. Der Choreograf Gilles Jobin teilt es zusammen mit seinem Kollegen Frédéric Gafner alias Foofwa d’Imobilité, einem anderen Radikalen des zeitgenössischen Tanzes. Auch die spanische Tänzerin und Choreografin La Ribot, die Frau von Jobin, hat ihr Büro hier.
Die Lokalität ist ein geschichtsträchtiger Ort, denn selbst der grosse George Balanchine gründete eben hier seine eigene Tanzschule, als er für kurze Zeit die Direktion des Ballet du Genève führte. Seither hat sich eine neue Generation von Tanzschaffenden in den Räumen installiert. Der 52-jährige Gilles Jobin hat wie kein anderer die zeitgenössische Schweizer Tanzszene geprägt und ist darüber hinaus einflussreich. Mit seinem 1997 geschaffenen Stück «A+B=X» hatte er seinen Durchbruch, zuerst in Frankreich und schliesslich international. Heute, erzählt Jobin, gelte dieses Werk als Klassiker, das damals junge Tanzschaffende beeinflusste. Niemand stört sich 30 Jahre später mehr an der Choreografie mit den nackten Körpern.
Jobin ist ein Vordenker des aktuellen zeitgenössischen Tanzes, in gewissem Sinn ein philosophischer Choreograf. Von Stück zu Stück tastet er sich zu neuen Fragestellungen vor, bis heute. «Tanz ermöglicht mir, über die eigene Existenz nachzudenken. Der Körper altert, ist fragil. Diese Erfahrung teile ich mit dem Zuschauer. Wenn dieser nach der Vorstellung den Raum verlässt, ist er etwas älter; der Tänzer auch», sagt Jobin, «für mich berührt Tanz das Existenzielle. Was ist das Leben? Was ist die Beziehung zwischen Körper und Gedanke? Was ist ein männlicher, was ein weiblicher Körper?»
Vor dem Hintergrund des Balkankrieges thematisierte der Choreograf 1999 in seinem Stück «Braindance» den misshandelten Körper. Ein Stück, das wehtat, und alles andere als leicht konsumierbare Kost war. Jobin zitiert den aus Genf stammenden Regisseur Jean-Luc Godard, der einmal meinte, der Zuschauer sei zum Arbeiten da, und nicht, um sich in seinen Filmen zu unterhalten. «Manchmal habe ich Mühe mit dem klassischen oder neoklassischen Tanz. Oft verstehe ich die Motivation nicht, warum sich Tänzer bewegen. Tanz ist mehr als Perfektion und Harmonie.»
Impulse am Cern Genf
Als Gilles Jobin mit 16 Jahren erstmals mit dem Tanz in Berührung kam – er sollte dadurch mehr Disziplin lernen –, war er total fasziniert. «Als Fan von Jerry Lee Lewis wollte ich erst Schauspieler werden, aber nur deshalb, weil ich den Tanz nicht kannte», erzählt er. Drei Jahre später begann er bei Rosella Hightower in Cannes und in Genf eine professionelle Tanzausbildung. Aufgewachsen ist er in einer Künstlerfamilie in der Nähe von Lausanne. Sein Vater war Maler der geometrischen Abstraktion. «Ich war in meiner Kindheit von diesen Bildern umgeben, und ich denke, dass dies meinen Sinn für Bewegung im Raum geformt hat», sagt der Sohn von Arthur Jobin.
Geometrie und Zahlen interessieren ihn. Seine Arbeit im Studio unterliegt klaren Vorgaben, Improvisation ist von daher nicht seine Sache. «Meine Arbeitsweise hat sich verändert», erzählt der Choreograf, «früher habe ich mehr vorgezeigt. Heute nehme ich mich zurück und vertraue auf die ‹denkenden Körper› meiner Tänzer.» Ein wichtiger Markstein in seinem Schaffen bedeutet seine dreimonatige künstlerische Residenz 2012 am Cern, am europäischen Forschungszentrum für Kernphysik in Genf. «Im Tanz geht man von einem Körper aus, der in der Erde verwurzelt ist. Tatsächlich aber ist die Gravitation eine relativ schwache Kraft im Universum, und der Körper ist eigentlich Leere», erklärt der Choreograf. Klar, dass solche Erkenntnisse ihre Kernspuren in einer Bühnenarbeit hinterlassen.
Tanzende Cowboys
In der deutschen Schweiz kennt man Jobins Stücke wenig; schade, angesichts seiner Bedeutung. Er hat für grosse Ballettcompagnies choreografiert, hat am Pariser Théâtre de Ville Premieren herausgebracht, tourt weltweit und hat im vergangenen Herbst den prestigeträchtigen Schweizer Tanzpreis gewonnen. In den Augen Jobins hat sich die Tanzförderung zu einem selbstzufriedenen Bürokratenapparat aufgeblasen. «Der Schweizer Tanz befindet sich an einem delikaten Punkt, es bräuchte wieder Visionen», regt er sich auf. Bald aber wird man den Genfer Choreografen in der deutschsprachigen Schweiz erleben können. Im Rahmen des Festivals Steps vom Migros-Kulturprozent feiert sein jüngstes Werk «Força Forte» seine Uraufführung. Abstrakt, ohne den Zwang einer Geschichte, lotet Jobin zusammen mit seiner langjährigen Tänzerin Susana Panadés Diaz die mehrschichtigen Kräfte aus, die in einer Beziehung wirken. Musik, Licht und Tanz werden – überraschend und durchaus verschroben – in ihre Bestandteile zerlegt. «Man kann sich fragen, warum zwei Cowboys auf der Bühne stehen, oder warum da ein Kaktus vorkommt. Das Stück hat seine eigene Logik, die der Zuschauer, sobald er sich darauf einlässt, verstehen wird.» Das entspricht ganz der Logik, die seinen Inszenierungen eigen ist: «Tanz ereignet sich nicht nur im Moment. Entscheidend ist doch, was danach davon bleibt.»
Força Forte
Mi, 13.4./Do, 14.4., je 20.00 Genève Centre des Arts
So, 17.4., 17.00 Lokremise St. Gallen
Mo, 18.4., 20.30 Vidmar Bern Liebefeld
Mi, 20.4., 20.00 Roxy Birsfelden BL
Weitere Vorstellungen: www.steps.ch
Weitere Highlights des Tanzfestivals Steps
Set And Reset/Reset Notturnino
Die britische Candoco Dance Company gehört zu den Top-Namen der zeitgenössischen Tanzszene. Mit Trisha Browns «Set And Reset/Reset» erneuerte Candoco ein Meisterwerk des US-amerikanischen Postmodern Dance. Der Schweizer Choreograf Thomas Hauert lässt in «Notturnino» seine Akteure nach Regeln und Vorgaben improvisieren. Inspiration für das Stück liefert die Tonspur des Dokumentarfilms «Il Bacio die Tosca» nach Giuseppe Verdi.
Do, 7.4. 20.00 Equilibre Fribourg
Fractus V
Der flämisch-marokkanische Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui ist ein charismatischer Tausendsassa und begeistert das StepsPublikum immer wieder. Nun tritt er mit einigen Tänzer- und Musikerkollegen gemeinsam zu einem multikulturellen Dialog auf die Bühne. «Fractus V» philosophiert über Grundthemen wie beispielsweise die Frage nach der Wahrhaftigkeit, nach der inneren Ruhe oder nach dem künstlerischen Austausch – berauschende Körper- und Bewegungsbilder in einer klug reduzierten Produktion.
Mo, 18.4., 20.00 und Di, 19.4., 20.00 Gessnerallee Zürich
Do, 21.4., 20.00 Dampfzentrale Bern
Sa/So, 23.4./24.4., jew. 19.00 Kaserne Basel
Huang Yi & Kuka
Der Choreograf Huang Yi aus Taiwan vermittelt magische Momente zwischen Mensch und Maschine – mit zwei Tänzern und dem Industrieroboter Kuka auf der Bühne. Das Ergebnis ist Tanzkunst in messerscharfer Präzision. Dabei bleibt die Art der Begegnung zwischen den ungleichen Partnern in der Schwebe: Wer lernt von wem? Oder herrscht gar ein versteckter Wettkampf?
Di, 12.4., 20.00 Südpol Luzern
Do, 14.4./Fr, 15.4., jew. 20.00 Gessnerallee Zürich
So, 17.4., 18.00 Théâtre Palace Biel
Mi, 20.4., 19.30 Stadttheater Schaffhausen
Alle Daten: www.steps.ch