Diese Worte haben die Schweiz erschüttert. Aber sie sind nicht in verräterischer Absicht gefallen: «Der Blick muss sich nun entschlossen nach vorwärts wenden, um mit allen unseren bescheidenen, aber dennoch nützlichen Kräften mitzuwirken an der Wiederherstellung der im Umbruch begriffenen Welt.» Der Waadtländer Bundesrat Marcel Pilet-Golaz (1889–1958) äusserte sie in einer Radioansprache nach der deutschen Besetzung Frankreichs. Manche Historiker interpretierten Pilet-Golaz’ Worte später als Aufforderung, sich mit den Achsenmächten Deutschland und Italien zu «arrangieren», sich nach dem Faschismus zu richten.
Der SRG-Mitarbeiter und Historiker Felix Münger erinnert in seinem soeben erschienenen Buch «Reden, die Geschichte schrieben» an diese Rede von Pilet-Golaz. Und Münger ordnet sie plausibel ein: «Der Makel, ein ‹Anpasser› zu sein, blieb an ihm haften. War er dies auch tatsächlich? Nein.» Allerdings war Pilet-Golaz in Müngers Einschätzung von der Angst getrieben, Kritik an Nazi-Deutschland könnte für die Schweiz katastrophale Folgen haben. Müngers mildes Urteil über Pilet-Golaz ist auch im Vergleich zur Lichtgestalt des antifaschistischen Widerstands zu sehen – General Henri Dunant. Dieser habe Sympathien für den italienischen Diktator Benito Mussolini bekundet.
Lieberherr und Kopp
Journalist Münger hat die öffentlichen Worte eines illustren Grüppchens von Persönlichkeiten zusammengetragen wie Carl Spitteler oder Aernschd Born. Der Luzerner Literatur-Nobelpreisträger Spitteler rief das Land im Ersten Weltkrieg zum Zusammenhalt auf. Der Basler AKW-Gegner Aernschd Born nahm in einer legendären Ballade die Schweizer Energielobby ins Visier, um den Bau des Atomkraftwerks Kaiseraugst zu verhindern.
Kritik wird Felix Müngers Band erwachsen, weil nur zwei Frauen mit wenig überzeugenden Redebeispielen vertreten sind. Die ehemalige Zürcher Stadträtin Emilie Lieberherr (1924–2011) ist zwar mit einem Appell zur Einführung des Frauenstimmrechts vertreten. Ihre Worte waren 1969 engagiert, aber keinesfalls spektakulär; viel wichtiger war der Anlass, an dem sie sprach – eine grossartige Demonstration für gleiche Rechte auf dem Bundesplatz.
Als zweite Frau ist Ex-Bundesrätin Elisabeth Kopp mit ihrer Rücktrittserklärung von 1988 vertreten. Sie musste die Landesregierung verlassen, nachdem sie ihren Ehemann über eine laufende Strafuntersuchung informierte. Diese Rücktrittserklärung ist keine rhetorische Meisterleistung, aber man beurteilt sie heute politisch wesentlich milder als damals.
Im historischen Kontext
Münger fasst die historischen Umstände dieser Ereignisse jeweils zusammen in einer Einleitung zu den Reden. Er bemüht sich um Zurückhaltung; für den Leser ist stets spürbar, dass er den historischen Akteuren gerecht werden will. Aber er scheut Urteile nicht.
Zum Beispiel im Fall des Berner Bundesrats Eduard von Steiger (1881–1962). Dieser rechtfertigte 1942 ausgerechnet vor einer «Landsgemeinde der Jungen Kirche» in Zürich Oerlikon die restriktive Flüchtlingspolitik des Bundes gegenüber den Juden: «Wer ein stark besetztes kleines Rettungsboot mit beschränktem Fassungsvermögen und ebenso beschränkten Vorräten zu kommandieren hat, muss hart scheinen, wenn er nicht alle aufnehmen kann.» Von Steiger prägte mit dieser Metapher das Bild von der Schweiz als einem «vollen Boot», das Flüchtlingen keine Rettung gewährte.
Felix Münger
«Reden, die Geschichte schrieben»
320 Seiten
(Hier und Jetzt 2014)