Schon früh muss die 1883 geborene Olga auf eigenen Beinen stehen: Nach dem Tod ihrer Eltern wächst sie in Pommern bei ihrer harschen Grossmutter auf. Bildung muss sie sich als Mädchen gegen alle Widerstände erkämpfen. Beharrlich verfolgt sie ihren Traum, Lehrerin zu werden. In der Kindheit stets an ihrer Seite ist der Gutsbesitzersohn Herbert. Als sich die beiden ineinander verlieben, stossen sie auf Ablehnung – seine Eltern erhoffen sich für ihren Sohn eine Partie aus höherem Stand.
Herberts Reaktion ist die Flucht: Er zieht nach Deutsch-Südwestafrika in den Krieg gegen die Hereros, der in einem grausamen Völkermord der deutschen Kolonialmacht mündet. Olga, die sozialdemokratische Ideale vertritt, billigt Herberts Helden-Fantasien zwar nicht, bleibt ihm aber verbunden.
Erneuter Aufbruch des Geliebten
Nach seiner Rückkehr verbringen die beiden eine schöne gemeinsame Zeit, doch Herbert schwärmt von «deutscher Manneszucht, deutschem Wagemut und deutschem Heldentum»: 1912 bricht er zu einer gefährlichen Expedition zum Nordpol auf. Der Autor stützt sich hier auf die historisch verbürgte Figur des Polarforschers Herbert Schröder-Stranz, der ebenfalls im Krieg in Deutsch-Südwestafrika war.
Olga lebt derweil ihr eigenes bescheidenes Leben als Lehrerin und später, durch eine Krankheit taub geworden, als Näherin. Lange glaubt sie daran, dass Herbert von seiner Abenteuerreise unversehrt zurückkehren wird.
Aus drei Perspektiven geschrieben
In schnörkelloser, nüchterner Sprache spannt der deutsche Bestseller-Autor und Jurist Bernhard Schlink («Der Vorleser») einen Bogen vom späten 19. Jahrhundert der Kaiserzeit über den Ersten und den Zweiten Weltkrieg bis in die 70er-Jahre. Die einschneidenden gesellschaftlichen Veränderungen durchläuft er im Schnelltempo, lässt seine Protagonistin aber immer wieder über den nationalistischen «Grössenwahn» sinnieren: «Sie fand, mit Bismarck habe das Verhängnis angefangen. Seit er Deutschland auf ein zu grosses Pferd gesetzt habe, auf dem es nicht habe reiten können, hätten die Deutschen alles zu gross gewollt.»
Während Schlink im ersten Teil aus auktorialer Perspektive von der Liebe zwischen Olga und Herbert und ihren unterschiedlichen politischen Auffassungen berichtet, lässt er im zweiten Teil den jungen Pfarrerssohn Ferdinand aus der Ich-Perspektive von Olga erzählen: Olga hatte bei Ferdinands Familie als Näherin gearbeitet und mit ihm eine Freundschaft geschlossen, die trotz des Altersunterschieds über Jahrzehnte anhielt. Nach Olgas Tod entdeckt Ferdinand in einem Antiquariat Briefe, die sie postlagernd an ihren Herbert geschickt hatte.
Der dritte und stärkste Teil des Buches besteht aus ebendiesen Briefen und rückt den Roman in ein anderes Licht. Hier erfahren die Leser unmittelbar und unverfälscht, was Olga bewegt hatte: ihre Wut über Herberts Rastlosigkeit und seine Luftgespinste, ihre Selbstvorwürfe, dass sie ihn nicht von den grössenwahnsinnigen Vorhaben abhalten konnte – und trotz allem ihre bedingungslose Liebe. In den Briefen scheinen zudem ihre Erfahrungen als Frau durch, die nicht wählen konnte oder für die gleiche Arbeit viel weniger verdiente als Männer. «Es ist zu spät, das Zusammenleben zu lernen, das ihr Männer wollt. Ich werde mich nicht anpassen, nicht unterordnen», schreibt sie ihrem im ewigen Eis verschollenen Geliebten, der ihren Sehnsüchten nicht gerecht werden konnte.
Buch
Bernhard Schlink
Olga
320 Seiten
(Diogenes 2018)