Mir geht es wie Martin Walser. Als dieser überaus bedeutende, noch lebende deutsche Schriftsteller sein Tagebuch auf einer Zugfahrt von Innsbruck nach Friedrichshafen einfach im Abteil liegen gelassen hatte, kam ihm eine Welt abhanden. Einer Nachrichtenagentur erzählte Walser: «Wenn etwas verloren ist, entsteht ein Gefühl. Nichts entwickelt sich in uns zu solcher Deutlichkeit wie Verlorenes. Aber nur das Verlustgefühl nimmt zu, das Verlorene selbst bleibt verloren.» Das hätte ich nicht schöner sagen können. Was, überlegte ich, haben sich die paar Tiroler dabei gedacht, die dieses schöne, in rotes Leinen gebundene Büchlein gefunden haben, ohne es zurückzugeben oder wenigstens den Schaffner zu informieren?
Waren es ein paar Präsenzdiener, die im Tiroler Oberland bei den Gebirgsjägern unter der Woche schikaniert worden sind und nun auf dem Nachhauseweg in der Bahn sich bei ein paar Bieren über das rote, leicht homophile Leinenbändchen lustig machten? Sofern sie die Schrift entziffern konnten, mussten sie sicher lachen über Formulierungen wie In Helsinki, mein Gott, allein die finnischen Begegnungen.
Wahrscheinlicher ist, dass die fleissigen Hände jener Bahnbediensteten, die in österreichischen Zügen regelmässig durch die Gänge gehen, um die spärlich gefüllten Abfalleimerchen zu leeren, am Endbahnhof zugegriffen haben, um das rote Büchlein jenem Schicksal zuzuführen, das alle irdischen Dinge erleiden, die leeren Plastikflaschen ebenso wie die Jausentüten. Im Alltag lässt sich kein grosser Unterschied zwischen einer zurückgelassenen Samstagsausgabe der Wiener Zeitung, einem zerlesenen Exemplar von Fifty Shades of Grey oder einem rotleinengebundenen Tagebuch machen.
Bei mir war es weitaus profaner, wenngleich auch meiner Geschichte ein Hauch von Schicksal anhaftet. Denn von nichts anderem erzählt Martin Walser, der bedeutende, noch lebende deutsche Schriftsteller, wenn er über seinen Verlag einen Finderlohn ausloben liess, um das rotleinengebundene Büchlein mit seinen Alltagsaufzeichnungen wieder erscheinen zu lassen. Nun, es ist bisher nicht eingetreten, dieses Wunder, das Buch ist nicht wieder aufgetaucht. Angenommen den Fall, ein Walser-Bewunderer aus Langen am Arlberg hütet diesen Schatz der Literaturwissenschaft, wie er bisher seine Schaf- oder Kuhherde gehütet hat, so gibt es noch Hoffnung: In 30 bis 40 Jahren hat dann ein Literaturarchiv die Chance, das verloren geglaubte Tagebuch anzukaufen und wissenschaftlich zu verwerten. Sofern in 30, 40 Jahren ein Schriftsteller wie Martin Walser von der Literaturwissenschaft überhaupt noch bearbeitet wird, das kann man heute noch nicht abschätzen. Vielleicht lauten die Forschungsaufgaben bis dahin Über die gendergerechte Lebenswirklichkeit im Kriminalroman von Klüpfel & Kobr oder Die Auswirkungen der #metoo-Debatte auf das Männerbild im modernen Roman unter besonderer Berücksichtigung der Einführung eines vierten Geschlechts im Bürgerlichen Gesetzbuch im Jahr 2025. Martin Walser als Proponent einer chauvinistisch-altvaterischen Männerliteratur des naiven 20. Jahrhunderts ist bis dahin vielleicht gar nicht mehr aktuell.
Ebenso wie mein Text, der sich über die parasitäre Teilhabe der klassischen Medien am Literaturbetrieb seine Gedanken machte. Wobei das Wort parasitär sicher negativ gemeint war und im Zweifelsfall von den meisten Vertretern ebenjenes Literaturbetriebs zurückgewiesen worden wäre. Eben das wäre die rhetorische Triebfeder des kurzen Textes gewesen. Leider aber schrieb ich – wie im Rausch – ebenjenen Text mit der Hand in ein Blanketbook in der Gewissheit, für mich selbst zu schreiben. Ohne Rücksicht auf irgendwelche Leser – darin unterscheide ich mich vermutlich von Walser, der zeitlebens auf eine wie auch immer geartete Öffentlichkeit schielt.
Von der reinen Literatur und dem Willen zur Erkenntnis kam ich zu den Produktionsbedingungen der Literatur und zum offensichtlichen Problem, dass im gegenwärtigen System der Literaturvermittlung schlicht zu viele Instanzen zwischen dem Autor und dem Leser stünden, und dazu, dass auch darin der Grund liege, warum Autoren nach wie vor in prekären Lebensumständen gefangen seien. Mein Text dachte über die vielen Nutzniesser nach, die – ich nannte es parasitär – an einem einzelnen Buch hängen. Neben dem Verlag sind das die Spediteure und Auslieferer, die davon profitieren, dass die Bücher hin- und hergeschickt werden. Das Wort Remittende ist ja für den Buchhändler Fluch und Segen zugleich.
Aber der Buchhändler, so hätte ich meine Argumentation fortgesetzt, unterscheide sich im Grunde nicht gross von einem Händler, der nur Schrauben verkauft. Die Literatur selbst sei ihm gleichgültig, ihm gehe es in erster Linie um Verkäuflichkeit. Und dann gebe es noch die Medien. Sie seien ihrer Natur nach rein parasitär, da sie davon leben, über Literatur zu urteilen, ohne selbst jemals in der eigenen Existenz gefährdet zu sein. Das sei das Paradoxon der Literatur, so meine Argumentation, dass gerade die nachlaufenden Verwerter der Literatur besser von der Literatur leben können als die Produzenten der Literatur selbst, denen ja bekanntermassen nur ein Bruchteil jenes Kuchens bleibt, den der Käufer im Buchladen quasi mit der Giesskanne über die Branche verteilt. So viele Profiteure, und so wenig Gerechtigkeit.
Darüber wollte ich schreiben und habe ich geschrieben, als ich handschriftlich mit Bleistift ebenjenes Büchlein füllte, und ich erinnere mich daran, dass ich erst zu schreiben aufhörte, als das Handgelenk zu schmerzen anfing und das Büchlein vollgeschrieben war. Euphorisch war ich und ganz im Glauben, einen guten, stimmigen Text geschrieben zu haben. Als ich aber ein paar Tage später das Geschriebene in den Computer übertragen und überarbeiten wollte, konnte ich das kleine Büchlein partout nicht mehr finden. Seitdem sind meine Gedanken über die parasitären Abgründe des Literaturbetriebs verschwunden, das Verlorene selbst bleibt verloren. Das hätte ich nicht schöner sagen können.
Bernd Schuchter
Der 41-jährige Tiroler studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Universität Innsbruck. Seit 2006
ist er Verleger des Limbus Verlages in Innsbruck. Er veröffentlichte zuletzt die historische Biografie «Herr Maschine oder vom wunderlichen Leben und Sterben des Julien Offray de La Mettrie».