Die Zahl «25» – das war im ersten Moment ein kurzes Rätsel an einem Morgen in diesem Jahr bei Ankunft im Radiostudio: Ein hübsches kleines Blumenbouquet, an die Vase gelehnt ein roter Briefumschlag, darauf die Zahl in Weiss: «25».
25 Jahre – das ist sowohl der gültige Zähler für ein Arbeitsjubiläum als auch für eine Generationenfolge. Und sie bezeichnen eine Zeitspanne, in der vieles vergeht, manches entsteht und einiges sich wandelt.
Als ich damals, 1997, begonnen habe, beim Radio zu arbeiten, habe ich grade noch die letzten Zipfel einer inzwischen längst vergangenen Zeit erhascht. Ja, ich bin tatsächlich jeweils noch mit jenem legendären Aufnahmegerät losgezogen, das aus einer Schweizer Präzisionswerkstatt kam und mehr als zehn Kilo auf die Waage brachte. Mit dabei immer genügend Nachschub an Magnetband, die Spule à 15 Minuten. Im Anschluss an das Interview wurden die Bänder mit einer Spezialschere geschnitten und mittels blauem Klebeband neu zusammengefügt.
Ich bin in keiner Weise nostalgisch und schätze den Umstand sehr, dass heute ein Aufnahmegerät nur noch knapp 100 Gramm wiegt und sich seit neuestem aufgezeichnete Tonspuren per Mausklick und im Bruchteil einer Sekunde sogar direkt in Schrift verwandeln lassen. Damit entfällt das nächtelange Transkribieren, Gesprochenes wird wie von Zauberhand übersichtlich und klar. Ein Zugewinn an Lebensqualität. Und doch: Immer, wenn man auf der einen Seite etwas gewinnt, geht auf der anderen etwas verloren. Das habe ich gelernt in 25 Jahren Berufsalltag.
Was ich auch gelernt habe, ist, Widersprüche auszuhalten. Dies, weil ich begriffen habe, dass das Leben selbst ein Widerspruch ist. Anders lässt sich die für unsere Generation so tonangebende Klimakatastrophe nicht erklären. Denn was, wenn nicht das Leben selbst, hat eine Spezies hervorgebracht, die sich dem Globus gegenüber so gefrässig verhält wie ein wucherndes Krebsgeschwür? Gleichzeitig sind wir als Spezies gesegnet mit einem an sich phänomenalen Gehirn. 25 Jahre professionelles Beobachten haben mich durchaus demütig gemacht. Neuerdings kommt jedoch auch verzweifelter Zorn hinzu. Denn wie anders als im Zorn lässt sich ein Mann wie Putin ertragen? Er ist im Moment aber nur der verhaltensauffälligste innerhalb eines ganzen Gruselkabinetts an Politikern und Politikerinnen, die das eigene Ich zum Schaden anderer nationalistisch überhöhen.
25 Jahre. Was waren in dieser Zeitspanne die «Milestones», die Momente also, die wir kollektiv kaum je vergessen werden? Da sind zunächst die ganz grossen Hiebe: 9/11, Fukushima, die letzten blutigen Zuckungen eines implodierten Jugoslawien, Irak-Krieg, Börsencrash, Hungersnot im Sudan, Klimawandel, Flüchtlinge, die im Mittelmeer ihr Grab finden, die Covid-Pandemie und aktuell ein in seiner Brutalität kaum zu überbietender Angriffskrieg quasi vor der Haustür. Da waren aber auch Erfolge: etwa die zweimalige Amtszeit des ersten schwarzen Präsidenten der USA, diverse Covid-Impfstoffe, 3D-Druck und MeToo. Dann Greta. Und klar die Markteinführung des Smartphones. Alles Lichtblicke, alles Möglichkeiten.
Unterm Strich aber fällt die Bilanz negativ aus. Gewisse Zahlen machen auch ratlos: So betrug 1997 das Bruttoinlandsprodukt weltweit rund 30 Billionen Dollar. Aktuell liegt es nach Auskunft der Weltbank bei etwa 102 Billionen. Die Zahl der zwischenstaatlichen kriegerischen Konflikte ist in den vergangenen 25 Jahren erstaunlich konstant geblieben. Exponentiell angestiegen sind allerdings die innerstaatlichen Krisen. Wachsender globaler Wohlstand führt also nicht zwingend zu wirtschaftlicher oder gar politischer Stabilität. Jahrhundertviertel lese ich auch als einzelne Kapitel innerhalb der Weltgeschichte. Und das unmittelbar zurückliegende erweist sich als ein eher turbulentes.
Was war eigentlich los, damals vor 25 Jahren? 1997 im Januar: Auftritt Dolly, das erste geklonte Schaf. Wenig später wird Madeleine Albright als erste Frau Aussenministerin der USA. In Grossbritannien gewinnt Tony Blair die Wahlen und damit nach 18 Jahren wieder die linke Labour-Partei. Im Mai wird eine Versöhnungserklärung zwischen Polen und der Ukraine unterzeichnet. 1997 stirbt nicht nur Lady Diana Frances Spencer, sondern auch Mutter Teresa. Mit Ablauf der vereinbarten Pachtzeit von 99 Jahren endet die britische Kolonialherrschaft in Hongkong. Vor 25 Jahren wird ein militärischer Partnerschaftsvertrag zwischen der Ukraine und der Nato unterzeichnet, macht ein junger Golfspieler namens Tiger Woods erstmals weltweit auf sich aufmerksam und stürzt im Oktober vor San Francisco der Folk-Sänger John Denver mit seinem Sportflugzeug ab. Im November sterben durch Terror 68 Touristen in Luxor. Im Dezember findet in Kyoto der erste Weltklimagipfel statt, und die Industrieländer verpflichten sich, ihre Treibhausgas-Emissionen zu senken. Ausserdem werden 1997 die Teletubbies freigesetzt und in Hongkong 1,5 Millionen Hühner getötet, um das Vogelgrippe-Virus zu stoppen.
Seit damals ist China zur Weltmacht aufgestiegen, wurde der Euro installiert und hat Japan Fukushima überlebt. Die Weltbevölkerung ist in 25 Jahren von 5,8 auf knapp 8 Milliarden angestiegen, und als Menschheit sind wir endgültig in den digitalen Raum vorgestossen. Zögerlich zuerst, dafür später umso lustbesetzter. Inzwischen sind wir abhängig, süchtig; ökonomisch wie mental. Die Tatsache allerdings, dass wir erstmals über eine weltumspannende, einfach zu bedienende Kommunikationstechnik verfügen, sagt noch nichts darüber aus, wie weit wir ihr Potenzial schon ausgeschöpft haben. Hier, so scheint es mir, gibt es noch reichlich Luft nach oben.
Die Blumen am Morgen als Überraschung auf dem Bürotisch. Das Couvert. Die Zahl gross, weiss auf rot: «25». Sie markiert eine Art Boxenstopp im ganz persönlichen Durchlauf durch die Weltzeit.
Bernard Senn
Bernard Senn, 1966 in Stuttgart geboren, ist seit 25 Jahren in unterschiedlichen Funktionen bei SRF tätig. Unter anderem bei den Sendungen «Familienrat», «HörPunkt», «Siesta» und «Sternstunden». Aktuell ist er Kulturredaktor bei Radio SRF 2 Kultur («Kontext», «Passage») und Host von «Kontext-Podcast». Bernard Senn lebt in Basel.