Früher nannten meine Freundinnen die Ecke an der Zürcher Bahnhofstrasse, wo die Eingänge der Modehäuser Big, Zara und H&M einander gegenüberliegen, das Bermudadreieck. Dort konnte man sich verlieren in Reihen um Reihen von Kleidern, auf Rolltreppen, in Umkleidekabinen. Meine Freundinnen sind aus dem Bermudadreieck wieder aufgetaucht, jetzt verkaufen sie ihre alten Kleider in Boutiquen, man nennt solche Kleider «Vintage». Sie verkaufen in den Boutiquen auch neue Kleider, die sie selbst designt und in Tschechien haben nähen lassen. Am Rand des Bermudadreiecks, vor dem Eingang des Warenhauses Jelmoli, stand viele Jahre lang eine Familie aus Eisen, geschaffen vom Bildhauer Kurt Laurenz Metzler, und von Jelmoli der Stadt Zürich in den 70er-Jahren geschenkt. Auf Betreiben des Warenhauses wurde die Skulptur 2008 von der Stadt wieder entfernt, sie stellte ein Hindernis für den Strom der Einkäufer dar. Im gleichen Jahr kam es zum Bankencrash.
Ich musste oft an die Eisenfamilie denken, ich stellte sie mir vor in ihrem Lager an der Duttweilerstrasse 1, ausrangiert im Kunstdepot der Stadt. Sie tat mir leid, ich träumte davon, sie an einem schönen Platz wieder aufzustellen.
In Griechenland gibt es viele schöne Plätze, und Griechenland ist das Land der Händler, jeder Grieche hat ein, zwei Ladenbesitzer in der Verwandtschaft. Natürlich sind mittlerweile viele Läden geschlossen, besonders in den Städten, aber auf dem Land, da wo die Menschen vom Tourismus und den Oliven leben können, würde ich bestimmt ein neues Bermudadreieck finden und könnte die Skulptur wieder aufstellen lassen.
Ich überlege hin und her und beschliesse, die Eisenfamilie nach Griechenland zu bringen.
Die Ehemänner meiner Freundinnen arbeiten seit langem bei der Stadt, und dank meinen guten Beziehungen ist es mir möglich, die Skulptur für wenig Geld der Stadt abzukaufen.
Ich miete einen Ford Transit, lasse die Eisenfamilie trotz Übergewicht in den Transporter laden und fahre sie durch Österreich, Ungarn, Serbien und Mazedonien nach Griechenland. Ich fahre hauptsächlich über neue Autobahnen, Grossprojekte der EU. Nachdem ich den Gürtel südmazedonischer Spielcasinos durchquert habe, erreiche ich die griechische Grenze. Ich hätte nicht gedacht, dass so viel Verkehr auf den Strassen sein würde, Benzin ist unbezahlbar geworden. Aber die Griechen verlassen ihr Land, während die Mittelschicht aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks an die nordgriechischen Strände drängt und die mitgebrachten Vorräte verzehrt. Die Mittelschicht aus Mitteleuropa und die Oberschicht aus Osteuropa halten Ausschau nach günstigen Grundstücken, sie haben Koffer voller Euro dabei.
Ich fahre durch viele Ortschaften und finde endlich im Dorf Agios Nikitas – Nikitas kommt vom Wort «unbesiegbar» – ein Bermudadreieck: eine Ecke, wo die Eingänge dreier Geschäfte einander gegenüberliegen. Es sind der Laden für Weisswaren von Frau Mina, der Kiosk mit Fahrradwerkstatt von Herrn Kyriakos und der neu eröffnete Laden seiner Frau, der Russin. Sie verkauft selbst gemalte Ölbilder, in verschiedenen Stilen, und Wimpel mit den Emblemen griechischer Fussballklubs, aus winzigen Glasperlen von Hand geknüpft. Die Russin will fünfzig Euro für einen Wimpel haben, allein das Material habe zwanzig Euro gekostet, sagt sie, und sie knüpfte drei Monate daran. Die Geschäftsidee habe sie von einem Händler, den sie vor einem Fussballstadion sah, er verkaufte die Wimpel für 250 Euro pro Stück.
Im Laden von Herrn Kyriakos verliere ich mich zwischen den Drehgestellen mit Postkarten und Taschenbüchern in verschiedenen Sprachen, dann tauche ich mit dem Buch «The Fish of Greece» von Georges Sphikas wieder auf. Es zeigt auf jeder Doppelseite links einen Fisch und rechts den Namen und eine kurze Beschreibung des Fisches in zehn Sprachen. Herr Kyriakos möchte drei Euro für das Buch haben, es habe früher sieben gekostet, ich gebe ihm fünf.
Bei Frau Mina kaufe ich Kinderkleider aus den 70er-Jahren, ungebraucht und in der Originalverpackung. Sie hat viele davon, man nennt solche Lagerbestände «Deadstock», ich kaufe alle. Die Preisverhandlungen sind verwirrend, auf den Tüten stehen die Drachmenpreise von früher, es ist nicht klar, ob ich in Euro oder in neuen Drachmen bezahlen soll. So oder so lohnt sich das Geschäft, meine Freundinnen in der Schweiz werden in ihren Boutiquen für die Vintage-Kleidchen einen guten Preis herausschlagen.
Herrn Kyriakos’ Sohn hat gute Beziehungen bei der Gemeinde, ich bekomme im Handumdrehen und für wenig Geld eine Bewilligung, um die Eisenfamilie aufzustellen. Nach einigem Herumtelefonieren finde ich einen Tagelöhner, der einen Betonmischer hat und den Sockel für die Skulptur giessen kann. Der Tagelöhner bringt zwei, drei Handlanger mit. Sie halten die Eisenfamilie fest, während der Beton abbindet. Es ist einfacher, wenn die Handlanger die Skulptur festhalten, als wenn man ein Stützgerüst aufstellt. Zum Glück müssen sie nicht in der prallen Sonne stehen. Nach gut vier Stunden können sie die Figuren loslassen. Ich gebe eine Runde Bier aus, das ich aus der Schweiz mitgebracht habe, Freunde von mir betreiben eine kleine Brauerei.
Jetzt hat die Eisenfamilie einen guten Platz im Schatten einer Platane, und ich fahre in die Schweiz zurück.
Dagny Gioulami
Dagny Gioulami ist 1970 in Bern geboren und lebt in Zürich. Sie absolvierte ein Schauspiel-Studium an der Hochschule für Musik und Theater in Zürich. Engagements führten sie an die Städtischen Bühnen Münster, ans Theater Basel und Schauspielhaus Zürich. Sie schreibt Liedtexte, Libretti und Theaterstücke. 2010–2013 besuchte sie das Schweizerische Literaturinstitut in Biel. Im Frühling ist ihr erster Roman «Alle Geschichten, die ich kenne» erschienen.