«Rück mit dem Stuhl heran. Bis an den Rand des Abgrunds. Dann erzähl ich dir meine Geschichte.» Dieses Zitat des US-Schriftstellers F. Scott Fitzgerald stellt Benedict Wells seinem Roman voran. An den Abgrund führt der Jungautor auch seine Protagonisten – und mit ihnen seine mitfiebernden Leserinnen und Leser.
Ein tragischer Verlust
Im Zentrum stehen drei Geschwister, die unterschiedlicher nicht sein könnten: der nachdenkliche Ich-Erzähler Jules, seine älteste, lebhafte und schöne Schwester Liz und der ältere, gehemmte Bruder, der Aussenseiter Marty. Diesen beschreibt der Ich-Erzähler anschaulich: «Es war, als hätte man Woody Allen gezwungen, noch einmal die Pubertät durchzumachen: Er trug nur noch schwarze Kleidung und einen schwarzen Ledermantel, gab den ganzen Tag intellektuelle Anspielungen von sich, die keiner von uns verstand, und mit seiner Hakennase und der Brille wirkte er wie eine existenzialistische Vogelscheuche.»
Trotz aller Unterschiede, eins verbindet die drei: Der tragische Unfalltod ihrer Eltern, der ihr Leben in unvorhergesehene Bahnen lenkt. Die Geschwister kommen in ein bayerisches Internat, und verlieren fast gänzlich den Kontakt zueinander. Der 11-jährige Jules, der sich nach dem Tod seiner Eltern in sich selbst zurückgezogen hat, lernt dort seine Seelengefährtin kennen: Die geheimnisvolle Alva, die ihn sein Leben lang faszinieren wird. Ihre Wege trennen sich zwar für viele Jahre, aber das geknüpfte Band zwischen ihnen bleibt bestehen. Und als sie sich wiederbegegnen – Alva ist inzwischen mit einem viel älteren, berühmten Schriftsteller verheiratet –, kommen sie sich wieder näher.
Die Handlung erstreckt sich über 35 Jahre. Die Leser begleiten Jules und seine Geschwister von der unbeschwerten Kindheit bis ins Erwachsenenleben. Wells erzählt aus Jules’ Sicht in Rückblenden von der Identitätssuche, dem Umgang mit Verlust – und vom Gefühl, sich selbst zu verlieren. Jedes der drei Geschwister befindet sich auf einem anderen Weg, und doch kreuzen sich ihre Pfade immer wieder.
Packender Schreibstil
Der 32-jährige deutsche Autor mit Luzerner Mutter, der selbst seine ganze Schulzeit in bayerischen Internaten verbracht hat, versteht sich aufs Geschichtenerzählen. Das hat er schon in seinen vorherigen Werken bewiesen, die meist auf den Bestseller-Listen landeten. Sein zweiter Roman «Becks letzter Sommer», den er 23-jährig veröffentlichte, wurde mit Christian Ulmen («Herr Lehmann») in der Hauptrolle verfilmt.
Zu Benedict Wells’ packendem Schreibstil und dem psychologischen Feingefühl für seine Figuren kommt im aktuellen Entwicklungsroman eine neue Tiefe hinzu. Die ironische Distanz habe er im neuen Buch abgelegt, sagte er in einem Interview. Trotz schwerer Themen wie Einsamkeit, Tod oder Verlust gehen Witz und Leichtigkeit nicht ganz verloren. Er stellt Identitätsfragen, welche besonders eine jüngere Leserschaft ansprechen werden. Wie werden die Menschen durch ihre Biografie, durch Schicksalsschläge geprägt? Wie viel Verantwortung trägt man selbst für das eigene Leben? Welche Charakter-Eigenschaften sind unveränderlich? «Wenn man sein ganzes Leben in die falsche Richtung läuft, kanns dann trotzdem das Richtige sein?», fragt etwa sein Freund Toni, der seit Jahren unglücklich in Jules’ unnahbare Schwester Liz verliebt ist. Und Jules’ Jugendfreundin Alva ist überzeugt: «Es sind die Brüche, in denen man sich erkennt.»
Die Hoffnung bleibt
Immer stärker wird Jules bewusst, dass er in einem «falschen Leben» gefangen, nicht bei sich selbst ist: Studium, Beruf, Liebesbeziehung fühlen sich nicht stimmig an, Talente liegen brach, Sehnsüchte bleiben unerfüllt: «… diese Unfähigkeit, am Leben teilzunehmen. Immer nur geträumt, nie wirklich wach gewesen.» Als es ihm endlich gelingt, ein Leben zu führen, das er gegen kein anderes eintauschen möchte, «nicht mal gegen jenes, in dem meine Eltern noch gelebt hätten», ist das Glück nur von kurzer Dauer. Das Schicksal oder der Zufall hat noch ein Wörtchen mitzureden … Und dennoch, die Hoffnung bleibt: «Ich bin bereit», endet der Roman.
Benedict Wells
«Vom Ende der Einsamkeit»
368 Seiten (Diogenes 2016).