Ein alter Mann träumt von der Jugend. Er verbündet sich mit dem Teufel, gewinnt die Frau seiner Träume, schwängert und verlässt sie. Im Duell bringt er ihren Bruder um, findet sich in einem orgiastischen Bacchanal und zuletzt bei seiner umnachteten Freundin wieder, die ihr Kind getötet hat. Eine archaische Geschichte, die Charles Gounod in seiner Oper «Faust» erzählt. Denkt man. Bis man die Zeitung aufschlägt und von zwischenmenschlichen wie gesellschaftlichen Extremsituationen liest und sich fragt, ob das alles wirklich gerade im Jetzt passiert.
Die kleine Welt des Dorfes
Mit Leichtigkeit findet Ben Baur schon in den ersten Minuten des Gesprächs eine Verbindung zwischen dem Stoff, mit dem er sich gerade am Theater St. Gallen befasst, und unserer Welt. Über solche Themen spricht er auch an den Proben mit Sängerinnen und Sängern, mit dem Chor und den Statisten. «Ich bin der Ideenanstosser», sagt der 37-Jährige über sich. «Mehr nicht. Ich sehe mich ganz unten, deshalb kann ich nicht das Geringste mit der Regisseurs-Heiligkeit anfangen, die da und dort herrscht.» Und er hat auch eine gute Begründung für diese Selbstpositionierung: «Ich bin in der 2., 8. oder 14. Vorstellung ja gar nicht mehr da, dann müssen Sänger und Musiker das Ganze tragen.»
Also müssen sie gemeinsam etwas entwickeln. Die Sängerinnen und Sänger müssen sich in ihre Figuren «hineindenken» können, wie Baur sagt. Wie das geht, hat er in St. Gallen schon einmal bewiesen, mit der Oper «Il pirata» von Vincenzo Bellini, die er mit intensiv präsenten Sängern zum düsteren Mafiastück geformt hat. Auch beim «Faust» hat er einen Kosmos gesucht, in dem er das Stück so ansiedeln kann, dass es auch zu uns Heutigen spricht. Es ist die Welt des Dorfs, in die der Krieg einbricht, und es ist Mephisto, der diese Katastrophe schon kennt. «Der Krieg wird alle unglücklich machen», sagt Baur.
Die kleine Welt seiner Oper ist Ben Baur nicht fremd. Als Sohn eines Metzgers ist er in Reinheim in Hessen aufgewachsen, in einem theaterfernen Milieu also, in dem es aber einen aufmerksamen Primarlehrer gab. Er hat den Eltern den Tipp gegeben, sie sollten diesen Buben fördern. Sie haben ihm den Weg geebnet, hinaus in die weite Welt des Theaters und der Oper, wo er mal Bühnenbildner ist und mal Regisseur – und manchmal wie in St. Gallen auch beides zugleich. Mit seiner Herkunft verbindet ihn nicht mehr viel. Oder doch? Wenn er, der Vegetarier, über den Vater spricht, wie er mit Liebe und Hingabe in der Metzgerei arbeitet, dann spürt man seine eigene Leidenschaft. Dann passt es auch gut, wenn Ben Baur feststellt, dass in der Opernregie wieder eine grössere Lust an der emotionalen Charakterzeichnung herrsche. Der «Faust» mag archaisch sein. Die Gefühlswelten, in die er hinableuchtet, sind es nicht.Rolf App
Oper
Faust
Premiere: Sa, 26.10., 19.00
Theater St. Gallen
Ben Baurs Kulturtipps
Kulturdenkmal
St. Galler Stiftsbezirk
«Mich beeindrucken die Kathedrale, das ehemalige Kloster und die Stiftsbibliothek stets von Neuem. Was hier im 18. Jahrhundert gebaut wurde, ist grossartig auch durch die Schätze, die der Stiftsbezirk birgt.»
Buch
Ágota Kristóf: Das grosse Heft (Piper 2013)
«Zwei Brüder wachsen im Krieg auf sich allein gestellt auf. Sie erschaffen sich eine eigene Welt. Ein Buch, das mich tief berührt hat.»
Kulturreise
Venedig, Florenz, Rom
«Warum nicht, statt in die Ferne, mit dem Zug und auf Goethes Spuren drei Städte besuchen, die eine unglaubliche Magie ausstrahlen? Und dabei auch stolz sein, was dieser kleine Kontinent namens Europa kulturell geschaffen hat.»