Von wegen despotischer Ballettmeister. Gegen Mitternacht fehlt im Porterhouse Grill im deutschen Baden-Baden nur noch, dass Gil Roman seinen Tänzern einen Gutenachtkuss auf die Stirne drückt: «Bonne nuit, mes enfants», säuselt er dem Quartett zu.
Spektakuläre Choreografien
Zugegeben: Er hat allen Grund, mit ihnen zufrieden zu sein, ist doch der Jubel noch im Ohr, mit dem sie vier Stunden zuvor im grossen Festspielhaus geehrt wurden. Tags darauf folgt die zweite Vorstellung vor 1500 Zuschauern, danach geht es weiter nach Barcelona: Auch 10 Jahre nach dem Tod des Gründers Maurice Béjart ist das Alltag im Béjart Ballet Lausanne.
Vor 30 Jahren zog Béjart mit seinem belgischen «Ballet du XXe siècle» in die Waadtländer Stadt am See und nannte sich fortan Béjart Ballet Lausanne. Von hier aus zog man seither mit alten wie neuen Choreografien in die Welt hinaus. Als der Meister 2007 im Alter von 80 Jahren starb, übernahm der Tänzer Gil Roman die Compagnie. Bis heute ziehen die spektakulären Choreografien die Menschen an. Béjart hatte es früh geschafft, mit dem zeitgenössischen Tanz spannende Geschichten zu erzählen – egal, ob es nun klassische Handlungsballette oder abstrakte Stücke waren. Bestens zu erleben ist diese Spannweite nun im amüsanten Programm in Zürich, im dem drei Tanzwerke gezeigt werden.
Die Fantasie hat freien Lauf
Wer glaubte, dass die Ironie der Magie kein guter Geselle ist, wird in Béjarts vor bald 30 Jahren geschriebenem Stück «Piaf» immer wieder beglückt lächeln – und kurz darauf verzaubert staunen. Béjart wollte in «Piaf» viel mehr als eine Handvoll Chansons in Tanz übersetzen. Er liess Edith Piaf durch die Männer seines Corps im wahrsten Sinn des Wortes neu erstehen, und er erzählt aus der Sicht des Bewunderers Episoden im Leben der Göttin. Die Musik bestimmt das choreografische Bild, die Fantasie hat freien Lauf.
Gil Roman führte das vom Meister erlernte Geschichtenerzählen weiter. Im zweiten Stück des Abends, «Tombées de la dernière pluie» (frei übersetzt: «Wir lassen uns nichts vormachen»), versucht er, aus einem abstrakten Nichts Handlung zu erschaffen. Mit tollen Bildern gelingt es ihm dank Videos, kühne Stimmungen und rätselhaft erotische Begegnungen heraufzubeschwören. Die Musik bleibt bei allem Bühnenzauber seltsam distanziert, ist nicht mehr der Motor des Geschehens.
«Der Name Béjart steht für ein bestimmtes Denken»
Béjart scheint im Corps allseits präsent. Keine zwei Minuten, ohne dass im Gespräch mit Gil Roman oder Produktionschef Richard Perron nicht der Name «Maurice» fällt. Kein Wunder, schaut Roman entgeistert, als wir fragen, ob die Compagnie dereinst auch ohne den Namen des Meisters überleben könnte. «Wir verkaufen den Namen Béjart. Was wollen wir mit dem Titel ‹3. Sinfonie, Schostakowitsch›? Bis nicht André Rieu das Werk im Repertoire hat, kennt es niemand.» Perron führt weiter aus: «Zehn Jahre nach Béjarts Tod war es zwar möglich, einen Abend ohne eine einzige Choreografie des Meisters zu machen. Aber die Compagnie ohne diesen Namen? Nie! Warum soll der Eiffelturm plötzlich Pariser-Turm heissen?» Vielleicht werde man in Zukunft anders tanzen, vielleicht würden junge Leute Béjart nicht mehr kennen, «aber gerade deswegen müssen wir den Namen Béjart Ballet behalten. Der Name steht für ein bestimmtes Denken!»
Dieses Denken zeigt sich darin, dass die Werke den Tänzern nach wie vor auf den Leib choreografiert sind. Da die Compagnie sich im Laufe der Jahre stetig verändert, erschafft Gil Roman die alten Choreografien wie neu, kreiert er sie doch für immer andere Tänzer. So überträgt sich die Handschrift Béjarts auf die Neuen, dringt in sie hinein. «Jeder Tänzer drückt sich anders aus, jeder kann hier eine Hauptrolle erhalten, die ganz auf seine Fähigkeiten zugeschnitten ist: Das spornt an. Ein Béjart-Tänzer muss nicht nur technisch eine gewisse Art Tanz kennen, sondern auch das zugehörige Denken», so Gil Roman.
Die rätselhafte Magie der Bewegungen
Das passt – oder eben auch nicht: Die Tänzer bleiben konsequenterweise im Durchschnitt entweder nur kurz oder dann gleich sechs, sieben Saisons, ja noch länger. Im Laufe der Jahre lernen sie alte Béjart-Choreografien kennen. Selbst «Sacre du printemps» von 1957 hat man noch im Programm: Was damals für 62 Tänzer gedacht war, wird heute allerdings von den verbliebenen 40 Tänzern der Compagnie interpretiert.
In Zürich zu sehen ist mit «Der wunderbare Mandarin» auch ein Béjart-Klassiker von 1992. Ballettmeister Gil Roman verfolgt jede Note Béla Bartóks akribisch genau und setzt sie in Handlung um. Béjarts Lust, Begehren und Gewalt zu verbinden, ist ungeheuerlich. Bisweilen erstaunt die Direktheit, ja die Einfachheit der Geste, doch kaum gesehen und verstanden, werden die Bewegungen zu rätselhafter Magie. Auch dank Gil Roman und seinen neuen Tänzern.
Aufführungen
Piaf / Tombées de la dernière pluie Der wunderbare Mandarin
Do/Fr, 4.5./5.5., jew. 19.30
Sa, 6.5., 15.00 & 19.30
So, 7.5., 15.00 Theater 11 Zürich
www.musical.ch/de/bejartballet
Film
Dancing Beethoven
(Das Béjart Ballet Lausanne tanzt Beethovens 9. Sinfonie)
Ab Do, 11.5., im Kino