kulturtipp: Thomas Schregenberger, beim Begriff Baukultur denken die meisten an Architektur. Aber Baukultur ist mehr.
Thomas Schregenberger: Bei diesem Begriff geht es eigentlich um die gebaute Umwelt. Damit meinen wir Planung, Realisierung von Bauten und Handwerk, aber auch Städtebau, Verkehr, Zersiedelung und Landschaftsschutz. Im Gegensatz zur natürlichen Umwelt, mit der wir uns in den letzten gut 40 Jahren sehr stark befasst haben, beschäftigen wir uns zum Beispiel schulisch kaum mit der gebauten Umwelt.
Der Verein Archijeunes möchte Baukultur als Schulstoff verankern. Weshalb?
Die gebaute Umwelt prägt uns so sehr wie die natürliche Umwelt. Und bis zu einem gewissen Grad gestalten wir sie alle mit effektiv als Architekten, Ingenieure und Politiker, aber eben auch als Bürgerinnen und Bürger, die an Volksabstimmungen teilnehmen. Dafür brauchen wir jedoch eine Entscheidungsgrundlage.
Im neuen Archijeunes-Buch schreibt die Soziologin Martina Löw in diesem Zusammenhang vom «Gewinn von Handlungsfähigkeit».
Genau, es geht um das Wissen und die Sensibilität, was unsere gebaute Umwelt betrifft. Dafür braucht es aber Bildung.
Die Bieler versenkten kürzlich das Autobahn-Projekt Westast, die Zürcherinnen stimmten letztes Jahr gegen den Ausbau des Rosengartens. Plakativ gesagt: Wir wissen sehr wohl Bescheid.
Wir leben in einer direkten Demokratie, also sind wir auch aufgefordert mitzureden. Wieweit wir wirklich dazu fähig sind, ist eine andere Frage. Biel ist ein schönes Beispiel: Ohne eine breite und informierte Opposition aus der Zivilgesellschaft wäre das Projekt nicht versenkt worden.
Unsere Gesellschaft wird urbaner, die Temperatur in den Städten steigt, Wohnraum wird teurer – das Wissen über unseren Lebensraum wird eigentlich nur noch wichtiger.
Dieser Meinung sind wir auch. Es ist sicherlich ein guter Zeitpunkt, um eine baukulturelle Bildung einzufordern. Es ist schön und gut, wenn etwa über Verdichtung gesprochen wird. Aber was bedeutet sie für unser Zusammenleben? Wir brauchen ein gemeinsames Niveau, eine gemeinsame Sprache, um über solche Themen diskutieren zu können. Denn das ist das Wichtigste: Über das, was uns alle angeht, müssen wir gemeinsam sprechen können.
Gerade wenn es um die Entwicklung des urbanen Lebensraums geht, dominieren schnell Fragen der Ästhetik. Es fallen dann rasch Begriffe wie «Wohnsilos». Weshalb ist das so?
Mich hat in St. Gallen kürzlich jemand nach dem Weg zum Bahnhof gefragt. Ich deutete auf ein Haus, auf dessen Höhe die Person abbiegen sollte. Als Antwort bekam ich: «Ah, der Betonklotz?» Dabei handelte es sich um ein Glasgebäude. Es fehlt uns an Präzision, um über Architektur zu sprechen. Aber nochmals: Es geht uns nicht alleine um Architektur, es geht uns auch nicht um die Frage, was denn schön ist. Es geht darum, dass wir anfangen, differenzierter über unseren gebauten Lebensraum zu sprechen.
Wo steht die Schweiz denn heute, was baukulturelle Bildung angeht?
Es passiert momentan sehr wenig. Es gibt Lehrpersonen, die sich für das Thema interessieren und es auch in ihren Unterricht einfliessen lassen. Erstens findet der baukulturelle Unterricht so aber nicht flächendeckend statt, zweitens nicht aufbauend. Eine Lehrperson macht etwas zum Thema, die nächste jedoch nicht. Wir sind der Meinung, Baukultur ist ohne Weiteres integrierbar im neuen Modul BNE, Bildung für nachhaltige Entwicklung.
Wie sieht es denn in anderen Ländern aus?
In Österreich zum Beispiel führen die Bundesländer Architekturforen, welche wiederum Initiativen für baukulturelle Bildung anbieten.
Als Student im In- und Ausland erkundete ich meine jeweilige Wohnumgebung gerne zu Fuss. Ist das schon eine Art baukultureller Bildung?
Auf jeden Fall. Es fragt sich einfach, wie bewusst Sie die Umgebung erleben. Deshalb finde ich den Beitrag der Städteplanerin Anne Brandl in unserem Buch so spannend: Sie schildert, wie sie mit ihren Studentinnen und Studenten eine Wanderung durchs Rheintal machte, um deren Blick auf die Umgebung zu schärfen. Bei baukultureller Bildung geht es darum, dass man sich anschaut, in welchem Verhältnis Strassen, Gebäude und die Natur zueinanderstehen. Anne Brandl beschreibt zudem auch, wie sich die Bürger von Vaduz in einem öffentlichen Forum zusammensetzten, um eine Neugestaltung des Marktplatzes zu diskutieren. Das macht Baukultur aus: Die Fähigkeit, miteinander den öffentlichen Raum zu gestalten und kritisch zu hinterfragen.
Wie könnte ein baukultureller Unterricht denn einst aussehen?
Diese Frage überlassen wir gerne jenen, die etwas von Pädagogik verstehen. Ich bin Architekt und nicht Lehrer. Unser Ziel ist es, das Anliegen politisch durchzusetzen und Grundlagen zu schaffen. Ich habe aber eine sehr hohe Achtung dafür, wie es Lehrpersonen schaffen, Kinder für das Thema zu sensibilisieren. Ich war mal mit einer 1. Klasse auf einer Führung in Zürich mit dabei. Bei der Hardbrücke sollten die Kinder ihren Rücken zwischen Brücke und Pfeiler drücken. Sozusagen die Brücke erspüren. Ich fand das faszinierend.
Sie haben es angedeutet: Das Buch von Archijeunes soll vor allem einen Überblick zu diesem komplexen Thema verschaffen. Wie geht es weiter?
Wir sind mit der ETH Zürich in einem Vorprojekt, um ein ETH-Forum für baukulturelle Bildung aufzubauen. Dort soll Grundlagenforschung betrieben werden, die danach von den pädagogischen Hochschulen aufgenommen werden kann. Am Ende wird das Wissen hoffentlich in ein Lehrmittel einfliessen.
Buch
Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung
Hg. Archijeunes
412 Seiten
(Park Books 2021)