Sie war klein gewachsen, zierlich. Aber ein Willensbündel, dem sich niemand querstellen mochte. So erschien die verstorbene Bestsellerautorin Ruth Rendell dem Besucher bei einer Begegnung vor ein paar Jahren.
Bevor sie auf ihre Bücher zu sprechen kam, holte sie zu politischen Betrachtungen aus. Als Mitglied des ehrenwerten House of Lords, des britischen Oberhauses, sei sie verpflichtet, sich für all die Obdachlosen in London einzusetzen. Es sei eine Schande, dass diese Stadt keine Verantwortung für die Gestrandeten übernehme.
Adelsschlag
Ruth Rendell, man ahnt es, stand ein Leben lang der linken Labour Party nahe. Die Queen adelte sie auf Antrag des ehemaligen Premierministers Tony Blair, sodass Rendell im Oberhaus Einsitz nehmen konnte.
Im Frühjahr ist die Baroness Rendell of Babergh, wie sie nach dem Adelsschlag hiess, im Alter von 85 Jahren verstorben. Jetzt ist ihr letzter Roman «Kindes Kind» auf Deutsch erschienen, den sie unter dem Pseudonym Barbara Vine schrieb. Der Roman handelt von vier Schicksalsgeschichten über zwei Generationen. Im Mittelpunkt stehen ungewollt schwangere Frauen sowie schwule Männer, die zusehends die Kontrolle über ihr Leben verlieren, weil sie unter der gesellschaftlichen Repression leiden.
Rendell hat die Handlung zu einem Psychokrimi verdichtet mit der Doktorandin Grace als Protagonistin, die sich vom homosexuellen Lover ihres Bruders schwängern lässt. Sie stösst gleichzeitig auf die Aufzeichnungen eines verstorbenen Geschwisterpaars in der Zwischenkriegszeit, das eine fatale Lebensgemeinschaft eingeht: Er ist schwul, seine paranoide Schwester ist die überforderte Mutter eines unehelichen Kindes. In Grossbritannien wurde die Homosexualität erst in der Nachkriegszeit legal, und unverheiratete Mütter waren in der englischen Provinz stigmatisiert.
Rendell hat legendäre Romane geschrieben wie «Urteil in Stein», in dem sie im ersten Satz gleich Täter und Motiv verrät: «Eunice Parchman ermordete die Familie Coverdale, weil sie nicht lesen und schreiben konnte.» Dennoch steigert sich die Spannung des Lesers ins schier Unerträgliche: Eunices Leben war eine einzige Panik, dass jemand ihrem Analphabetentum auf die Schliche kommen konnte.
Psychologische Dichte
Rendell schrieb neben einigen Sachbüchern drei Reihen von Romanen. Am populärsten waren ihre Krimis mit dem gut meinenden Inspektor Wexford, der unermüdlich in einem fiktiven Provinznest für eine bessere Welt kämpfte. «Das bin ich», bekannte sie. Ihre Kriminalromane zeugen von aussergewöhnlicher Qualität wie «Der Duft des Bösen», die packende Geschichte einer Antiquarin, die zusehends den Verdacht hegt, einer ihrer Untermieter könnte ein Serienmörder sein. Rendells dritte Reihe sind die literarisch anspruchsvollen Barbara-Vine-Romane wie «Kindes Kind». Im hohen Alter brachte die Autorin noch einmal eine psychologische Dichte zu Papier, die den Leser atemlos macht.
Rendell schirmte ihr Privatleben von der Öffentlichkeit ab. Bekannt ist, dass sie zwei Mal mit dem gleichen Mann verheiratet war, ihr gemeinsamer Sohn lebt in den USA.
Buch
Barbara Vine
(Ruth Rendell)
«Kindes Kind»
363 Seiten
(Diogenes 2015).