Man beginnt keinen Satz mit «Ich». Diese philosophische Aussage begleitete meine Schulzeit und grub einen Graben zwischen den einen und den anderen. Die Glücklichen, die auf der positiv bewerteten Seite des Ufers standen, das waren diejenigen, die schreiben konnten, die von sich aus wussten, dass ein guter Text, ein guter Satz niemals mit einem «Ich» beginnen könne. Die weniger Glücklichen, das waren diejenigen, die nicht schreiben konnten, bei denen die Lehrerin seufzte, zuerst tief einatmete und dann den Atem durch den leicht geöffneten Mund wieder ausstiess. In diesem Seufzen lag dann das ganze bisherig gelebte Lehrerinnenleben, das bei allem guten Willen ihrerseits, aller Geduld, Strenge und manchmal vielleicht sogar Güte, nicht zum erwünschten Ziel geführt hatte.
Ich weiss nicht mehr, ob es meine Satzanfang-Ichs waren, die meine Lehrerinnen – es waren doch einige zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten – zum Seufzen brachten. So wagte ich am Ende meiner Schulzeit nicht daran zu denken, dass ich je zu den Schreibenden gehören könnte. Hingegen war da meine halbiranische Freundin Nesrin, die mir schon im Alter von zwölf Jahren erklärte, sie werde mal Schriftstellerin. Ich blickte sie nur bewundernd an und versprach, ihr zu ihrem ersten veröffentlichten Roman einen Mont-Blanc-Füllfederhalter – mein damaliger Inbegriff einer Respektbezeugung – zu schenken.
Oder da war meine Studien- und WG-Freundin Olga, Germanistikstudentin, mit der ich zwei Anschauungen nicht teilte: wie sauber ein Küchentisch nach einer Rotweinnacht sein könne und ihre Vision eines Lebens als Schriftstellerin irgendwo in Rom. Ja, ich konnte Rom vor mir sehen, mit den bunten Vespas, dem lauten Hupen, den Cafés, den schönen grazilen Italienerinnen, den Kirchen und Treppen. Aber in diesem Rom sah ich niemanden, zumindest nicht mich, die an kleinen Bistro-Tischchen auf Rechnungsquittungen Wörter kritzelte, durchstrich und wieder hinschrieb, nach Sätzen rang so wie die Tauben auf dem Boden um Brotkrumen. Schnelleres Picken, lauteres Gurren, heftigeres Getrippel als die anderen Artgenossen führte zum ersehnten Leckerbissen. Und ja, Olga wurde Schriftstellerin.
Auch nicht hilfreich war meine Mutter. Nein. Vielleicht sogar meine höchste Hürde und damit auch gleichzeitig meine grösste Inspiration. Ich weiss noch, wie ich meiner Mutter einmal einen meiner Texte vortrug. «Katzenpullover» hiess er und handelte von einem pubertierenden Mädchen, das von seiner Mutter gezwungen wurde, einen bestimmten Pullover mit kleinen weissen Katzen auf Hellblau zu tragen. Alle Versuche des Mädchens, sich seiner Mutter zu widersetzen, nützten nichts. Es musste diesen Pullover tragen. In meiner ganzen Naivität las ich meiner Mutter diesen Text vor, voller Stolz über meinen Wurf. Ihre Reaktion fiel anders aus als erwartet, und etwas von ihr fiel in meinen Text hinein, etwas, das eine explosive Mischung in sich trug und zu einem Zerwürfnis führte.
In solchen Situationen bräuchte man Sprache und Sätze, die mit einem «Ich» anfangen, das die Wogen wieder zu glätten vermag. Nur hatte meine Schulzeit Spuren hinterlassen, und kein einziger Ich-Satz vermochte die Dissonanzen zu verwandeln.
Gerne hätte ich zu meiner Mutter so etwas gesagt wie: «Liebe Mama, lange habe ich an diesem Text gesessen, und weisst du, was ich gemerkt habe? Ich kann diese Geschichte so oder so oder so erzählen. Ich kann sie gar nicht immer wieder gleich erzählen. Sie wird immer anders, vielleicht, weil die Sonne gerade durchs nicht geputzte Küchenfenster scheint oder weil mein Sohn meine Unterschrift gefälscht hat oder weil die Katze Junge bekommen hat. All dies hat Auswirkungen auf die Geschichte des Katzenpullovers. Und natürlich war die Kurzgeschichte über den Katzenpullover niemals so, wie sich das Ganze zugetragen hat. Ehrlich gesagt, weiss ich gar nicht mehr genau, wie sie sich zugetragen hat, da ist nur ein vager Eindruck in mir zurückgeblieben, etwas Unklares, das mich interessiert hat, das ich dann dramatisierte, verkleinerte, vergrösserte, dem ich hinzufügte und von dem ich wegnahm, sodass etwas Gewebtes wie ein Text daraus entstand.» So etwas hätte ich gerne gesagt.
Ich habe Schreiben immer als etwas Riskantes empfunden. Vielleicht wegen dieser vorgegaukelten Nähe eines «Ichs» oder dieser Lehrerinnen-Forderung «ohne Ich» oder der Möglichkeit zur Peinlichkeit, auch wegen des «Ichs». Ich kenne die Probleme mit dem «Ich» in einem literarischen Text. Da könnten immer Fragen zur eigenen Biografie auftauchen, zur eigenen Wahrhaftigkeit sozusagen. Leben ist etwas Flüchtiges, etwas Vielgestaltiges, Vergängliches, Bewegtes. Ein Text dagegen raubt diesem Leben einen Teil dieser Flüchtigkeit. Jeder Satz ist eine Festlegung, könnte auch anders daherkommen, anders formuliert werden, aus einer anderen Perspektive erzählt werden. Und jeder Satz baut eine vermeintliche Nähe und Distanz auf, gleichzeitig. Wenn der Text geglückt ist, schafft er vielleicht eine Nähe zum Lesenden und schenkt ihm einen distanzierten Blick auf sein eigenes Leben. Man sollte sich also vom «Ich» des Textes nicht auf eine falsche Fährte leiten lassen, denn das «Ich» zeigt vielmehr auf ein «Du», eine Beziehung zwischen Autor, Lesern und Figuren.
Die Leserin des Textes haucht dem Text wieder Leben ein, indem sie mit ihrem Leben in den Text hineinfällt. Der Text verwandelt sich, wird zu einem anderen Text. Zu etwas Neuem. Die Leserin wird zur Autorin. Lesen ist ein durch und durch kreativer Akt, ein Schöpfungsprozess.
Seit mein erster Roman «Siehst du mich?» veröffentlicht ist, werde ich des Öfteren gefragt, wie denn meine Beziehung zu den Figuren und den Themen darin sei. Und ich suche jedes Mal eine Antwort, die sich stimmig anfühlt. Die Themen haben etwas mit mir zu tun, interessieren mich, haben Fragen in mir geweckt, die Handlung, die Figuren aber sind erfunden. Rafik Schami schrieb einmal ein Buch mit dem sinnigen Titel «Der ehrliche Lügner». Genauso fühle ich mich.
Barbara Stengl
Barbara Stengl ist 1973 in Graz geboren, studierte Theater- und Medienwissenschaften sowie Politik und Psychologie in Zürich und Erlangen. Nach Stationen im Verlagswesen und in der Erwachsenenbildung arbeitet sie seit 15 Jahren als Theaterpädagogin, Regisseurin und Journalistin. Sie ist Autorin von Theaterstücken und Kinderbüchern. Kürzlich ist beim Europa Verlag ihr erster Roman «Siehst du mich?» erschienen, für den sie einen Werkbeitrag des Kantons Zürich erhielt. Barbara Stengl ist Mutter zweier erwachsener Kinder und lebt in Uster ZH.