Nichts ist so alt wie eine Zeitung von gestern – und nichts ein so guter Fundus, um an Material für literarische Texte zu kommen. Natürlich neben Beobachtetem, Gehörtem, Interviews, Lektüre fremder literarischer Texte, eigenen Erfahrungen – für mein Schreiben eben doch ganz zentral: die Zeitungslektüre.
Neuigkeiten aufnehmen bedingt bis zu einem gewissen Mass, das Vergangene loszulassen, denn Anhäufung von Altem könnte den Newsfluss stören. Deshalb binden wir in regelmässigen Abständen unsere alten Zeitungen zu Bündeln und übergeben sie der Papiersammlung. Immer wieder hebe ich aber einzelne Seiten auf. So hat sich bei mir mittlerweile so etwas wie ein Archiv aufgebaut, das Artikel aus mehreren Jahrzehnten enthält.
Die Aufbewahrung erfolgt chronologisch, nicht thematisch. Denn für eine thematische Katalogisierung müsste ich wissen, wieso ich genau diesen oder jenen Artikel aufhebe. Doch so klar lässt sich dies nicht benennen, meist bleibt mir das selbst schleierhaft, ich spüre lediglich, da ist etwas, das mich in einem Zeitungstext anzieht, mich beschäftigt, umtreibt. Etwa ein Artikel über die Roten Listen der gefährdeten Arten in der Schweiz. Vielleicht ist es die Thematik des Aussterbens, das Bedrohliche, das in der Begrifflichkeit mitschwingt oder die Hoffnung auf Rettung? Jedenfalls wird mir deutlich, dass es um etwas Grösseres geht, um etwas, das über den einzelnen Artikel hinausgeht, das Verbindungen zu anderen Themen hat, doch diese Verknüpfungen sehe ich (noch) nicht klar. Es ist vielmehr ein intuitiver Vorgang, ein ineffizienter, ja, aber ein sehr lustvoller, anregender.
Ich sammle einfach drauflos. Artikel über Fledermausinvasionen in Wohnräumen, die Ausbreitung von Ambrosia, die heilige Apollonia, darüber, wie mit der Zahnseide umzugehen sei, Augenprothesen, Überwachungskameras, Zungenküsse, unkontrolliert heulende Sirenen, Drogenkartelle, Putschversuche. Ich bin grundsätzlich an fast allem interessiert; literarisches Schreiben hat meiner Meinung nach sehr viel mit Offenheit und Unvoreingenommenheit zu tun. Ich lasse mich laufend irritieren, denn Irritation bedeutet Berührung und daraus kann Neues entstehen.
Während die Zeitungen die Gleichzeitigkeit der über die Welt verstreuten Ereignisse herstellen, gehe ich traumtapsig dem nach, was sich in den zeitlichen Überlagerungen wiederholt, zusammenfügt, verdichtet. Nach und nach komme ich auf die Spur dessen, wovon gewisse Erscheinungen Ausdruck sind. Und so sammle ich stetig, ruhig und voller Zuversicht. Denn mittlerweile weiss ich, aus diesem Sammelsurium wird sich etwas herauskristallisieren, mit dem ich mich intensiver beschäftigen möchte. In regelmässigen Abständen gehe ich die Artikel durch, die Schichten, die Ablagerungen. Dabei zeigt sich, dass sich vieles wiederholt, eine unablässige Wiederkehr einiger Phänomene, Themen, Stoffe, vielleicht in immer wieder anderer Gestalt, mit denen wir versuchen fertigzuwerden. Doch es sind oft Ausdrucksformen von Urthemen der Menschheit, mit denen nicht fertigzuwerden ist. Und hierum kreist mein Schreiben. Es sind Themen so komplex und banal zugleich, die letztlich unser Leben, unseren Alltag ausmachen: Wer sind wir, und wer oder was bestimmt dies immer wieder neu? Was engt uns ein, und wer befreit uns? Was bedroht uns, und wo laufen wir hin? Wer spielt sein gefährliches Spiel mit uns und bringt uns um unseren Verstand, und was lässt unser Herz schneller schlagen?
Beim Durchsehen der Artikel entsteht etwas zwischen mir und dem Material, ein Spannungsverhältnis, aus dem heraus ich etwas Neues, Eigenes schöpfe. Und dann wird es sehr intensiv: Die Dinge schieben sich ineinander, verknäueln sich, Altes und Neues, Generationen von Artikeln, Bildern, in Wiederholungen, in Variationen. Resonanzen über Jahrzehnte hinweg entstehen. Und die Gedanken beginnen zu kreisen.
Es entstehen dabei Zusammenhänge, die auf den ersten Blick auch mal absurd erscheinen mögen. Das Bienensterben, die Dentalhygiene, Zwillinge – daraus entsteht plötzlich ein verheissungsvolles Netz, und irgendwann dann auch ein Roman. Allmählich. Der Weg dahin ist lang.
Doch ab einem gewissen Punkt ist die Suche dann etwas gebahnter. Dann etwa, wenn ich von eineiigen Zwillingsschwestern schreibe und ich mich mit deren symbiotischer Beziehung befasse. Da springt mich dann dieser Zeitungsartikel über einen Urwald im Luzernischen an, viel flechtenbewachsenes Totholz befinde sich darin. Flechten seien, so lese ich weiter, eine Symbiose aus Pilz und Alge. Dieser zufällige Fund eines anderen symbiotischen Verhältnisses beginnt mich zu interessieren. Und ich vertiefe mich in die Flechten, lese in der Fachliteratur über die Roten Listen der Flechten in der Schweiz, spreche mit Spezialistinnen über die Flechten als Bioindikatoren für die Luftqualität, reise nach Finnland und besuche dort eine Forschungsstation, von welcher aus Flechtenexkursionen unternommen werden, gehe durch etliche Wälder. Und dann der Entscheid: Die eine Zwillingsschwester wird Flechtenforscherin. So kanns gehen – zum Beispiel in meinem ersten Roman, der im kommenden Herbst erscheinen wird.
Während der Arbeit am Roman sitze ich an einem Tisch in der Zürcher Zentralbibliothek, um mich herum all die Studierenden mit ihren Jus-, Physik-, Kunstgeschichte- oder Mathematikbüchern, alle in ihren Monothematiken versunken – bei mir hingegen auf dem Tisch: Bücher über analoge Fotografie, Totenbeinflechten, Heiligenlegenden und nicht zuletzt über Ablagerungen im Mundraum, denn meine Protagonistin verschlägt es bereits auf den ersten paar Seiten in eine Dentalhygienebehandlung – eine Zumutung, bei der auch die heilige Apollonia nicht mehr helfen kann!
Barbara Schibli
Die Autorin ist 1975 in Baden AG geboren und lebt heute in Zürich. Sie arbeitet als Deutschlehrerin an der Kantonsschule Baden. Für ihr Schreiben erhielt sie verschiedene Auszeichnungen, zuletzt 2016 den Studer/Ganz-Preis für ihr Roman-Debüt «Flechten», das im Herbst 2017 bei Dörlemann erscheinen wird.