Ich weiss nicht, was Sie tun, wenn Sie für die Ferien packen, ein Fest organisieren oder den Stapel an unerledigten Aufgaben abarbeiten wollen. Viele, die ich kenne, machen sich dann eine Liste mit allem, was sie noch einpacken oder anpacken sollten, oder einen Wochenplan, der die Aufgaben fein säuberlich festhält. Betritt man derzeit eine Buchhandlung, könnte man meinen, das ganze Leben bestünde mittlerweile aus Listen: Dutzende von To-do-Blöcken und Memolisten in allen Farben und Varianten gibt es zu kaufen, um den Überblick über das Gewusel des Alltags zu behalten, ganz zu schweigen von den unzähligen Apps, die unsere Packlisten, Termine und Daten managen.
Der moderne Mensch ist ein zielversessenes Wesen. Und um auch tatsächlich ans Ziel zu gelangen, macht er sich mit Vorliebe einen Plan, setzt eine To-do-Liste auf, nach der er sein Tun ausrichtet. Manche erstellen sogar Listen fürs Leben: «dos» and «don’ts», um dem Ziel einer zufriedenen Existenz näherzukommen. Andere holen sich Inspiration bei vorgestanzten Listen und konsultieren Bücher, welche die 100 Orte versammeln, die man im Leben gesehen haben muss; die 50 wichtigsten Klassiker, die man intus haben sollte; die 10 Dinge, die Menschen am meisten bereuen, wenn sie sterben. Ganz offensichtlich haben wir das Bedürfnis, unserem Leben eine Form zu geben und mit Hilfe einer Liste dessen Kern nicht zu verpassen. Die Frage ist bloss: Was ist der Kern?
Mal abgesehen davon, dass die Frage nach dem Kern leicht aus dem Blick gerät, wenn wir uns darauf konzentrieren, Items auf einer Liste abzuhaken, hat uns Corona einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Viele Listen wurden zu Makulatur. Das geplante Sabbatical? Gestrichen. Die gebuchten Ferien? Annulliert. Die Hochzeit? Auf später vertagt. Wenig trifft den modernen Menschen mehr, als wenn sich seine Pläne in Luft auflösen. Der moderne Mensch bringt sein Leben schliesslich nicht einfach zu, sondern er will es gestalten, indem er seine Karriere, seine Familie, ja, sogar sein eigenes Sterben plant. Die Dinge, die er anpeilt, werden dabei meist auf Etappenziele reduziert auf dem Weg zum Kern, den er sucht. Der Mensch packt seine Existenz also voll mit Dingen, die Kieran Setiya, Philosophieprofessor am Massachusetts Institute of Technology in Boston, als «telisch» bezeichnet: mit Tätigkeiten, die auf ein Ziel (griechisch «telos») gerichtet sind und damit auf einen Endpunkt zustreben, dem sie eigentlich dienen. Die Weiterbildung ist beispielsweise «telisch»: Wir absolvieren sie, um eine berufliche Neuorientierung anzugehen. Auf einen Marathon hin zu trainieren, ist «telisch»: Wir wollen als Finisher ins Ziel einlaufen. Anders verhalten sich «atelische» Tätigkeiten: Sie streben nicht auf ein Endziel zu, sondern wir vollführen sie um ihrer selbst willen. Mit dem Partner ein Glas Wein trinken. Karten spielen. Ein warmes Bad nehmen. Die stoische Philosophie predigte schon in der Antike, es den Kindern gleichzutun und die atelischen Tätigkeiten, das Sein an sich, wertzuschätzen: spielen um des Spielens willen, singen, weil uns danach ist.
Doch wir Erwachsenen sind als Ateliker oftmals Nullen. Wie Kieran Setiya in seinem Buch «Midlife Crises. Eine philosophische Gebrauchsanweisung» ausführt, haben viele Lebenskrisen ihren Ursprung darin, dass wir eine Vorliebe für alles Telische entwickelt haben. Kaum ist ein Ziel erreicht, hecken wir das nächste Projekt aus, das wir umsetzen wollen, um dem nächsten Ziel näher zu kommen. Haben wir das Projekt umgesetzt, ist das Wohlgefühl aber nur von kurzer Dauer: Zielversessen, wie wir sind, suchen wir nach einem neuen Punkt auf der Liste, den wir abhaken können.
Corona hat uns diese Marotte fürs Erste ausgetrieben. Denn viele unserer Ziele sind aufgeschoben oder gar aufgehoben. Sich neue Ziele zu setzen, ist im Moment nicht einfach. Wer weiss schon, was die kommende Woche, der nächste Monat bringen? Wir werden lernen müssen, den Wert atelischer Tätigkeiten neu zu schätzen: Cello spielen nicht wegen der Orchesterprobe, sondern aus Lust am Spiel. Ein Buch lesen nicht wegen der Prüfung zum Thema, sondern weil wir lesen wollen. Die Wohnung putzen, nicht weil Besuch kommt, sondern weil im Schrubben selbst etwas Reinigendes liegt. Und zumindest das ist gut so.
Tätigkeiten um ihrer selbst willen wertzuschätzen, hilft überdies, sich nicht so abhängig zu machen vom Resultat, das wir erreichen wollen. Dass wir gut daran tun, uns an das zu halten, was wir ändern können, und gelassen hinzunehmen, was sich nicht ändern lässt, ist ein weiteres Rezept der stoischen Philosophie, das seine Gültigkeit bis heute hat. Ändern lässt sich ausschliesslich unsere Einstellung zu dem, was wir hier und heute tun. Ob wir das Ziel je erreichen, auf das wir hinarbeiten, liegt selten allein in unserer Macht.
Listen zu machen, kann helfen, sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Aber wenn das Abhaken an sich meist lustlos bleibt und das Ziel ungewiss, verspielen wir allenfalls unseren Einsatz. Dann könnte es uns ergehen wie dem Künstler im Lied von Mani Matter «D’Chue am Waldrand»: Ein Maler fährt aufs Land und entdeckt am Waldrand eine Kuh, die er gern in einem Bild festhalten würde. Er malt Hügel, Himmel, Gras und Blumen. Als er zum Hauptmotiv des Bildes kommt, nämlich zur Kuh, trottet diese davon und sozusagen aus dem unfertigen Bild heraus. Auf der Leinwand des Malers bleibt ein weisser Fleck zurück, und Mani Matter zieht das Fazit: «D’Wält isch so perfid, dass si sech sälte oder nie, nach Bilder wo mir vore gmacht hei richtet.»
Barbara Bleisch
Barbara Bleisch ist 1973 in Basel geboren. Sie hat in Zürich, Basel und Tübingen Philosophie, Germanistik und Religionswissenschaften studiert und am Ethik-Zentrum der Universität Zürich promoviert. Seit 2010 moderiert sie die «Sternstunde Philosophie» bei SRF, seit 2018 ist sie Kolumnistin beim «Tages-Anzeiger». Bleisch ist Mitglied des Ethik-Zentrums der Universität Zürich und unterrichtet Ethik in verschiedenen universitären Weiterbildungsprogrammen. Zu ihren jüngsten Publikationen gehören «Kinder wollen» (gemeinsam mit Andrea Büchler, Hanser), «Warum wir unseren Eltern nichts schulden» (Hanser), «Familiäre Pflichten» (Suhrkamp) und «Ethische Entscheidungsfindung» (Versus).