Eng, Körper an Körper, stehen die Tänzer zusammen. Ihre nach vorn gebeugten Rücken heben und senken sich heftig im Rhythmus der Musik. Wie ein einziges Organ, ein pochendes Herz. Abrupt löst sich eine Tänzerin aus der Gruppe, blickt zögernd zurück, einen Augenblick lang, um sich den andern gleich wieder anzuschliessen. Im Saal des Ballett Zürich sind fast alle der 36 Ensemblemitglieder anwesend. Geprobt wird das neue Stück «Winterreise», das die Ballettsaison am Opernhaus eröffnen wird.
Ein grosses Tableau in Schichtungen
Bis auf eine Solistin in Spitzenschuhen tragen alle schweres Schuhwerk. Es trappelt und klappert, wenn die Tänzerinnen und Tänzer im Pulk vorwärtsschreiten. «Die Liebe liebt das Wandern …», klingt es aus den Boxen. Es ist das erste Stück aus dem Liederzyklus «Winterreise» von Franz Schubert, hier in der Neuinterpretation des zeitgenössischen Komponisten Hans Zender. Da erhebt sich der Choreograf Christian Spuck und winkt ab. Er möchte die Bewegungen der Tänzer, die jetzt in einer geraden Linie stehen und zeitlich verschoben von links nach rechts vorrücken, präziser haben.
Beim Probenbesuch hat Christian Spuck sämtliche Schritte zu den insgesamt 24 Liedern festgelegt. Jetzt gehe es darum, eine Choreografie zu bauen, sagt er in einer Probenpause. Ein Prozess, der ihn an die Collagen des US-amerikanischen Malers Robert Rauschenberg erinnert. «Ich bin ein grosser Fan von ihm, wir versuchen ganz ähnlich, ein grosses Tableau aus verschiedenen Motiven und Assoziationen zu schaffen. Es ist wie ein Schichtungsvorgang.»
Der Knackpunkt dabei sei, die einzelnen Bilder so miteinander zu verbinden, dass keine Nummernabfolge entstehe. Eigentlich sei die «Winterreise» ein hermetisches Werk, denkbar ungeeignet für den Tanz. Obwohl Spuck diesen Liedzyklus seit seiner Kindheit kennt und liebt, hätte er sich choreografisch wohl nie daran gewagt, wäre da nicht die musikalische Neufassung für Tenor und kleines Orchester von Hans Zender. «Die Musik Schuberts, die Liedtexte und der Sänger sagen alles», ist er überzeugt. «Alles, was man dazu machen würde, wäre nur Bebilderung und käme nie an die Kraft des Werks heran. Zender macht die Türen in die Abstraktion auf und damit auch für die Choreografie zugänglich.»
Musikalische Einfügungen in Schuberts Werk
In der Interpretation von Zender werden Schuberts Lieder im Original belassen. An gewissen Stellen unterbricht er diese und macht eigene musikalische Einfügungen. Das sind manchmal irritierende Verschiebungen, wenn die Streicher etwa ein anderes Tempo als die Bläser anschlagen. «Wir machen etwas Ähnliches wie der Komponist, indem wir mit den Mitteln des modernen Tanzes und mit abstrakten Bildern auf die Musik reagieren», führt Spuck aus. «Wir öffnen viele Assoziationsebenen, die sich alle um Tod, Vereinsamung und Verinnerlichung drehen.»
Musikalisch zentral bei Zender ist das Motiv des Wanderns. «Vor dem ersten Lied gibt es ein Vorspiel von fast vier Minuten. Man hört schnelle Schritte durch den Schnee gehen», sagt Spuck. «Das habe ich in die Choreografie aufgenommen und daraus anspruchsvolle Pas de deux kreiert.»
Auf der Bühne wird es weder einen Mann mit Rucksack geben, der sich von der Liebe enttäuscht auf Wanderschaft begibt, noch eine Frau, die ihm am Fenster zum Abschied zuwinkt. «Letztlich erzählen wir von einer Schneelandschaft, in der sich bestimmte Dinge ereignen. Es sind Bilder einer inneren Reise», so der Choreograf.
Parallelen zwischen damals und heute
Entsprechend diesem Konzept gibt es auch keinen Protagonisten. Die Rolle des einsam Wandernden, von dem Wilhelm Müllers Libretto von 1823/24 erzählt, wird in der Choreografie von verschiedenen Tänzern verkörpert. Zu ähnlich sei der Inhalt der 24 Lieder, erklärt Spuck. «Es muss spannend bleiben, und das ist grundsätzlich schwer, wenn man eine Serie hat.»
Neben dem Motiv der enttäuschten Liebe werden auch die gesellschaftlich-politischen Gegebenheiten von damals hineinspielen, zumindest in feinen Anspielungen. Im Biedermeier, der Entstehungszeit des Liedzyklus, herrschte Zensur – eine Eiszeit für freie Geister und Künstler. Nicht dass Spuck eine politische Botschaft beabsichtigte, doch stellt er interessante Parallelen zwischen damals und heute fest: Der Rückzug ins Private in misslichen Zeiten sei ein eigentliches Biedermeier-Verhalten. Gut möglich, dass das eine oder andere poetische Bild auch davon erzählen wird.
Die Sprache zu den Bildern finden
In der Zeit bis zur Premiere wird es darum gehen, die eigene Tonart und den besonderen Charakter jeden Liedes herauszuschaffen. Noch wird mit dem Tonband geprobt. Bald aber wird der Tenor Mauro Peter, ein ausgewiesener Schubert-Interpret, dazukommen. Spuck weiss, dass der Fokus auf der Bühne automatisch zur Stimme geht. Dafür wird er eine szenische Lösung finden müssen, denn die Tänzer sollen nicht choreografisches Beiwerk zu Text und Gesang werden. «Wir wissen, wie die Bühne, wie die Kostüme sein werden, und wir haben viele Bilder im Kopf», sagt Spuck, «aber noch sind wir dabei, eine Sprache zu finden.»
Nicht wenige Herausforderungen sind zu bewältigen, bis die Lichter am Premierenabend angehen. Spuck aber wirkt zuversichtlich und lächelt: «Diese Arbeit mit meinen Tänzern macht einfach Spass!»
Christian Spuck
Christian Spuck – 1969 in Marburg geboren – trat als Ballettdirektor Heinz Spoerlis Nachfolge 2012/13 am Opernhaus Zürich an. Seine Tanzausbildung machte er an der John Cranko Schule in Stuttgart.
Er war Tänzer im Stuttgarter Ballett und von 2001 bis 2012 dessen Hauschoreograf. Inzwi-schen hat er für viele namhafte Compagnien Stücke geschaffen. In Zürich hat er ein exzellentes Ensemble aufgebaut, das klassische Technik auf hohem Niveau mit neuen zeitgenössischen Formen verbindet. Seinen Vertrag als Chef des Ballett Zürich hat er bis 2025 verlängert. Das gebe ihm die Chance, künstlerisch noch wagemutiger zu werden, sagt Spuck.