Crystal Pite ist aktuell eine der international aufregendsten Choreografinnen. Mit ihrer eigenen, kleinen Company Kidd Pivot aus Vancouver gastierte die 50-jährige Kanadierin bereits zwei Mal während des Tanzfestivals Steps in der Schweiz. 2012 galt Pite hier noch als Geheimtipp. Vor drei Jahren tanzte das Ballett Zürich ihr Stück «Emergence» für ein grosses Ensemble. 36 Tänzerinnen und Tänzer schwärmten wie ein Volk von Bienen aus einem hell erleuchteten Startloch an der rückseitigen Wand. Es war ein überwältigendes Erlebnis, der Compagnie bei ihrem Flug über die Bühnenbretter zu folgen, ihren geometrisch abgezirkelten Formationen, präzis in der Synchronizität und gleichzeitig von einer weichen Geschmeidigkeit in Armen und Beinen.
Jetzt kann man das Stück am Opernhaus Zürich erneut sehen, zusammen mit «Angels’ Atlas», das 2020 in Toronto seine Uraufführung hatte.
Bei Crystal Pite stehen die Tänzer im Zentrum
Der Zürcher Ballettdirektor Christian Spuck ist begeistert von Crystal Pite. Schon lange verfolge er ihre Arbeiten. Für «Emergence» musste er fünf Jahre warten, bis er die Zusage bekam, das Stück mit der eigenen Compagnie einstudieren zu können. «Ich war ausser mir, als Crystal Pite mir angeboten hat, ihr jüngstes Stück ‹Angels’ Atlas› mit uns zu koproduzieren», erzählt er. «Sie wollte wieder mit dem Zürcher Ballett arbeiten.»
Zwei Tage vor der Premiere schwärmt Lucas Valente, Tänzer beim Ballett Zürich, im Zoom-Gespräch von Pite als Choreografin und Mensch. Nach wie vor erlauben es die Corona-Sicherheitsmassnahmen nicht, als Aussenstehende eine Probe zu besuchen. Seit wenigen Tagen sei Pite präsent vor Ort und mache das sogenannte Fine Tuning. «Obwohl das Adrenalin vor einer Premiere gewöhnlich steigt, bleibt Pite ruhig», sagt Valente. Es herrsche eine erstaunlich entspannte Probenatmosphäre. «Gestern zeigte sie mir, wie ich mein Bein anders bewegen könnte», erzählt der Tänzer. «Heute habe ich es beim Durchlauf wieder auf die alte Weise gemacht. Als ich mich dafür bei ihr entschuldigte, meinte sie, ich solle es doch wie vorher machen, wenn es sich für mich natürlicher anfühle.» Tänzerinnen und Tänzer lieben die Choreografin dafür, dass sie mit ihnen auf Augenhöhe arbeitet. Es gehe nie um richtig oder falsch, so Valente, sondern um die Aussage und das Gelingen des Stücks. Und dafür müssen die Tanzenden verstehen, was sie tun, und Zugang zur spezifischen Tanzsprache der Choreografin finden. «Für mich fühlten sich die in der Choreografie angelegten Bewegungen von Anfang an natürlich an», sagt Valente. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum er in der Audition für drei Duos und Soli ausgewählt wurde. Lucas Valente ist kein Erster Solist im Ensemble, er figuriert in der in einer klassischen Compagnie vorgegebenen Hierarchie «nur» unter «Gruppe mit Solo».
Verlusterfahrungen in Tanz ausgedrückt
Dass seine Compagnie-Mitglieder unter einer Gastchoreografin andere Erfahrungen machen können als mit ihm, ist Ballettchef Christian Spuck wichtig. Er mische sich bei der Besetzung der Rollen bewusst nicht ein, sagt er dezidiert. Einstudiert vor Ort wurde «Angels’ Atlas» von Spencer Dickhaus, früher Tänzer beim Nederlands Dans Theater und heute Assistent von Pite. Erstmals arbeitete er mit dem Ballett Zürich Anfang letzten Jahres. Die Proben hat er immer wieder gefilmt, und anhand der Filme entschieden sich Pite und Dickhaus für den definitiven «Cast» der Duos und Soli.
Lucas Valente wurde ausgewählt. «Da ich gross gewachsen bin, werde ich häufig für Duette ausgesucht», erzählt er, «der Fokus ist da stark auf den Hebungen und dem Technischen. Dass ich diesmal auch Soli tanzen kann, bedeutet mir viel.»
Der Brasilianer Valente ist 31 Jahre alt und eher spät zum Tanz gekommen. «Ich würde nie sagen: ‹Tanz ist mein Leben›», meint er, «aber er ist eine starke Kunstform, um Gefühle auszudrücken, wenn Worte nicht ausreichen.» Auch in «Angels’ Atlas» werden Emotionen und Inhalte transportiert, die nur bis zu einem bestimmten Punkt rational erfasst werden können. Valente tanzt zusammen mit Giulia Tonelli drei Duos. Es sind, wie er erzählt, verschiedene Formen von Verlusterfahrung: Verlassen zu werden von einem geliebten Menschen bis hin zum endgültigen Abschied, dem Tod. Schmerz und Fassungslosigkeit sind Gefühle, die sich kaum in Worten vermitteln. Auch physisch sei das anstrengend zu tanzen, sagt Valente, da sie oft tief in den Knien gebeugt tanzen müssten.
Als würde ein Windstoss durch die Tänzer fegen
Dieser Schwere gegenüber steht im Stück ein überirdisches Licht, das sich auf der Rückwand in Fontänen ausbreitet und eng mit dem tänzerischen Geschehen auf der Bühne interagiert. Es ist die Welt der Engel, das Staunen und Schweigen über die Weite des Universums. Wenn ganz am Anfang die ephemeren Klänge aus der «Liturgie des Hl. Johannes Chrysostomos» von Peter Tschaikowsky erklingen, die Tänzerinnen und Tänzer still auf ihrem Rücken liegen und auf der Bühnenrückwand hell leuchtende Funken wie nach einem Feuerwerk langsam zu Boden rieseln, ist man als Zuschauerin von diesem Bild in Bann geschlagen. Ein unsagbares Bild ist auch der Moment, als Valente den Kopf seiner Tanzpartnerin in Händen hält, während ihr Körper wild zuckt. Er hält ihn noch, als aus diesem Körper alles Leben gewichen ist.
Im Stück wechseln sich intime Szenen mit grossen Massenszenen ab. Über 30 Tanzende bewegen sich gleichzeitig auf der Bühne und erschaffen eine umwerfende Dynamik. Crystal Pite ist eine Meisterin darin. Manchmal ist es, als würde ein Windstoss durch die Tänzerinnen hindurchfegen. Alles fliesst, und es scheint fast, als tanzten die Engel mit.
Angels’ Atlas
(«Emergence» und «Angels’ Atlas» von Crystal Pite sowie «Almost Blue» von Marco Goecke)
Sa, 16.10./Do, 21.10., 19.00 & Sa, 23.10./So, 31.10., 20.00
Opernhaus Zürich
www.opernhaus.ch